Der Deutschland-Komplex
Während so einer WM kann die Fantasie schon mit einem durchgehen. Zu viele Emotionen, zu wenig Rationalität. Männer werden wieder zu Buben; jeder mit seinen eigenen Präferenzen. Der eine findet Ronaldo gut, weil er so gut trickst und so oft ins Tor schieß
Mein Bekannter hat grundsätzlich nichts gegen Leiberl-Ausziehen. Wenn es Rooney tut. Oder Ailton. Wenn es Ronaldo tut, dann ist das die reinste Provokation für ihn. Dann geht das, was bei Rooney und Ailton geht, plötzlich gar nicht mehr. Was Bauchmuskeln so alles anrichten können.
Fußball ist grundsätzlich ein einfaches Spiel mit komplizierten Begleiterscheinungen. Eigentlich geht es ja bloß um zweimal elf Typen, die einer Kugel nachhetzen, die sie ins Tor des Gegners schießen wollen. Drumherum entstehen aber regelrechte Dramen. Der eine mag die Portugiesen, der andere die Spanier, die Brasilianer, die Holländer. Wenige Österreicher mögen die Deutschen, auch wenn sich das bessert. In der Regel ist das so: Die Generation unter 30 mag die Deutschen eher als die Generation über 50.
Die Älteren sind noch geprägt von Vogts, Breitner, Hoeneß. Die Generation danach von Möller, Sammer, Kahn. Das waren allesamt Ungustln hoch drei. Da fiel es keinem Österreicher schwer gegen Deutschland zu sein. Deutschland war eine Mannschaft aus mindestens elf Ungustln, die hundsmäßig Fußball spielte aber am Ende gegen auch noch so attraktiv spielende Teams als Sieger hervorging. Das provozierte so viele Österreicher, dass sie diese Provokationen bis heute nicht vergessen können. Außerdem stehen Über-Fünfzigjährige auf Tradition. Wer einmal Austria-Anhänger war, wird kein Rapidler mehr. Wer die Deutschen nie mochte, mag sie auch unter Löw nicht. Egal wie sympathisch der ist, egal wie höflich der Lahm spricht, egal wie eifersüchtig man auf den gegnerischen Ronaldo ist. Mein Bekannter mag die Deutschen auch nicht. Kein Zufall: mein Bekannter ist über 50. „Der Müller is a Oasch", sagte er nach dem Spiel der Deutschen gegen Portugal. Warum er das denn sei? Zuviel Freude nach jedem seiner drei Tore. Müller hat zu ausgelassen gejubelt. Das provozierte meinen Bekannten. Nur wenn sich Müller noch das Leiberl vom Körper gerissen hätte, wäre mein Bekannter noch erzürnter gewesen. Deutsche dürfen bei ihm genau so wenig das Leiberl abstreifen wie Ronaldo. Da ist mein Bekannter streng.
Es gibt nun unterschiedliche Bekannte. Es gibt Bekannte, die zerkugeln sich schon, wenn ein anderer gegen eine Glastür rennt. Dann gibt es solche, die zerkugeln sich erst, wenn einer gegen eine Glastür rennt, darauf eine Kokosnuss auf seinen Kopf fällt und er danach noch in Kokosnussmilch ausrutscht. Mein Bekannter gehört zu zweiter Kategorie. Wenn er jemanden nicht mag, dann reicht kein fantasieloses Hoppala um ihn zu erfreuen. Die Deutschen sollen demnach nicht einfach ausscheiden, da muss mehr her.
Mein Bekannter hat nach dem 4:0-Sieg der Deutschen, den er als enorm provozierend empfunden hat, eine Fantasie entworfen, die ihn am meisten erfreuen würde. Deutschland darf, wenn es nach ihm geht, ruhig ins Endspiel einziehen. Mein Bekannter würde dabei mit keiner Wimper zucken, er würde den Deutschen sogar zuklatschen, kein bisschen Ärger würde er empfinden. Egal wie oft und ausgelassen sich Müller auch freuen sollte. Im Endspiel aber sollen die Deutschen Holland erwischen. Mein Bekannter hat sein Wunschszenario dann schon vor Augen. Die Deutschen spielen attraktiven Fußball, vergeben Chance um Chance. In der Nachspielzeit läuft Robben dann auf Neuer zu. 1:0 – Holland ist Weltmeister und Robben rennt über den Platz. Mein Bekannter, ein ansonsten durchaus weitsichtiger Mann über 50, würde dann Hüpfen wie ein kleiner Bub. Wahrscheinlich würde er sich sogar das Leiberl vom Körper reißen.