Leben oder Sterben - Die etwas andere EURO-Analyse
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Leben oder Sterben - Die etwas andere EURO-Analyse

Quo vadis Fußball? Diese Frage ist wie nach jedem Großturnier auch nach der EURO 2024 brandaktuell. Ein Gast-Kommentar von Pro-Lizenz-Coach Tilo Morbitzer:

Tilo Morbitzer (46) ist seit 2014 im Besitz der UEFA-Pro-Lizenz. Der Deutsche hat Sportwissenschaften studiert und lebt seit über einem Jahrzehnt in Österreich. Seit 2018 arbeitet Morbitzer in verschiedenen Funktionen beim FC Flyeralarm Admira, aktuell ist er Cheftrainer der U16. Zuvor war er nicht nur Scout des VfB Stuttgart, sondern unter anderem auch Individual-Trainer der Nachwuchsakademie des SK Rapid und Sportlicher Leiter des Wiener Fußball-Verbands.

In diesem Gast-Kommentar für 90minuten analysiert er die Europameisterschaft 2024:


Quo vadis Fußball?

Immer wieder stellt sich diese Frage aufs Neue, egal ob man über mögliche Regeländerungen, die zur Erhöhung der Attraktivität des Spiels beitragen könnten oder über die taktische Flexibilität des Spiels diskutiert.

Nach der mit dem spanischen Sieg beendeten EURO 2024, ist diese Frage, wie nach jedem Großturnier, also wieder brandaktuell. Zudem stellt sich die Frage, wer sind eigentlich die Gewinner oder Verlierer der EURO 2024?

And the winner is…

Sportlich betrachtet gibt es bei der EURO 2024 zwei große Gewinner. Der erste ist natürlich Spanien und der zweite, bedingt durch den spanischen Sieg, der Fußball selbst. Denn gewonnen hat dieses Turnier die Mannschaft, die in den K.O.-Runden den attraktivsten und dominantesten Fußballstil vertreten hat.

Lediglich Deutschland hatte im Viertelfinale mit 23 vs. 18 Schüssen, 52% vs. 48% Ballbesitz und 588 vs. 576 gespielten Pässen in den meisten Statistiken knapp die Nase vorne gegenüber den Spaniern, aber im Fußball entscheidet am Ende eine andere Statistik und die konnte Spanien mit 2:1 nach Verlängerung für sich entscheiden. Durch die anfangs übertriebene Härte der Deutschen, gekrönt durch die Verletzung von Pedri nach einem schweren Foul von Toni Kroos in seinem letzten Spiel, am Ende gefühlt auch zurecht.

Die Diskussion um den vermeintlich nicht gegebenen Elfmeter soll im weiteren Verlauf noch einmal aufgegriffen werden. Den Deutschen bleibt zumindest der Trost, die einzige Mannschaft zu sein, die Spanien in 90 Minuten nicht besiegen konnte.

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Deutschland konnte Spanien zumindest in Sachen Statistik fordern

In den anderen K.O.-Runden dominierten die Spanier ihre Gegner. So hatte Georgien (4:1) im Achtelfinale mit 4 vs. 35 Schüssen, 24% vs. 76% Ballbesitz und 263 vs. 792 gespielten Pässen am Ende keine Chance, Frankreich (2:1) im Halbfinale mit 9 vs. 6 Schüssen, 41% vs. 59% Ballbesitz und 339 vs. 500 gespielten Pässen das Nachsehen und England (2:1) im Finale mit 9 vs. 16 Schüssen, 34% vs. 66% Ballbesitz und 294 vs. 545 gespielten Pässen den verdienten zweiten Platz.

Gewonnen hat dadurch der Ballbesitzfußball mit hohem Pressing und schnellem Gegenpressing. Vor allem aber die Philosophie, den Ball besitzen zu wollen, um das Spiel zu dominieren, hat am Ende den Erfolg verdient. Frei nach dem Motto: "Wenn wir den Ball haben, kann der Gegner kein Tor schießen". Und den Ball möglichst weit weg vom eigenen Tor und damit möglichst nahe am gegnerischen Tor zu erobern, macht das Spiel zu einem attraktiven Schlagabtausch.

Zu einem attraktiven Schlagabtausch gehören immer zwei

Aber zu einem attraktiven Schlagabtausch gehören immer zwei. Und das war bei dieser EM nicht oft der Fall. Lediglich in elf Spielen schoss eine Mannschaft mindestens drei Tore, lediglich in sieben Spielen fielen mehr als drei Tore und nur in zwei Spielen schoss eine Mannschaft mehr als drei Tore.

Laut Statistik verringert sich mit jeder Sekunde einer Ballbesitzphase die Wahrscheinlichkeit auf einen Torerfolg, da der Gegner sich mit jeder Sekunde besser organisieren kann. Was berechtigterweise auch die Philosophie eines kompakten, tiefstehenden Verteidigungsblockes mit einem schnellen Umschaltspiel bei Ballgewinn in die tiefen Räume hinter die Restverteidigung des Gegners, um mit möglichst wenig Kontakten in wenigen Sekunden den Konterangriff abzuschließen, erfolgversprechend und attraktiv macht.

Aber ist es das auch für den Zuschauer? Diese Philosophie hat durch tiefe Kompaktheit und sehr wenig Risikobereitschaft einen hohen Sicherheitsgedanken, was einen attraktiven Schlagabtausch und damit ein Spektakel für alle Zuseher kaum möglich macht.



And the loser is…

Wenn beide Mannschaften so spielen, wie es England mit einem Kader, gespickt mit Weltklassespielern, getan hat, läuft der Fußball Gefahr, unattraktiver zu werden. Dann lebt so ein Turnier nur noch von der Spannung, wer am Ende gewinnt oder verliert. Leben oder Sterben.

Trainer Gareth Southgate war nach den holprigen Auftritten in der Gruppenphase und den glücklichen Weiterkommen in den K.O.-Runden bereits im eigenen Land in Ungnade gefallen. Lediglich der Einzug ins Finale rechtfertigte die Spielweise der "Three Lions". Das reicht vielleicht für ein Turnier, aber reicht das auch für eine Liga?

Das Finale der EURO 2024 ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Die erste Halbzeit war geprägt vom Ballbesitz der Spanier und tiefstehenden Engländern. Klare Torchancen konnten die Spanier nicht herausspielen und so endete eine langweilige erste Halbzeit 0:0. Das schnelle 1:0 der Spanier nach Wiederanpfiff änderte die Haltung der Engländer, die jetzt etwas mehr riskieren mussten und das Spiel wurde attraktiver.

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It's not coming home: Harry Kanen & Co. müssen weiter auf einen Titel warten

Nach dem geschafften späten Ausgleich hätte England weiter Druck machen können, um das Spiel für sich zu entscheiden, aber sie überließen sofort den Spaniern wieder das Spiel und stellten sich wieder in ihren tiefen Block. Vielleicht hat das den Fußballgott dann doch endgültig erzürnt und er entschied, den Engländern auch nach 58 Jahren keinen Titelgewinn zu gönnen und ermöglichte den Spaniern das 2:1 kurz vor Schluss - das Gott sei Dank nicht vom Videoschiedsrichter wieder aberkannt werden konnte.

Verlierer dieser EM: Die Emotionen der Fans

Und damit sind wir beim absoluten Verlierer dieser EM: Den Emotionen der Fußballbegeisterten, die durch den Einsatz des Videobeweises immer wieder minutenlang auf harte Proben gestellt und dadurch unterdrückt werden.

Es ist eine Katastrophe für den Moment des Spiels, wenn erste Emotionen nicht mehr ausgelebt werden, weil das Tor vielleicht doch nicht zählt oder das Elfmeterfoul im Nachhinein vielleicht doch keines war und man, ohne es zu wollen, erstmal in eine Wartehaltung geht.

Entscheidungen wie das nicht gegebene 1:0 der Dänen im Achtelfinale gegen Deutschland, weil zwei Zentimeter der großen Zehe im Abseits standen - um im Gegenzug aufgrund einer vermeintlichen Berührung des Balles im Strafraum einen Elfmeter hinnehmen zu müssen - machen die ehrlichen Emotionen, die das Fußballspiel so besonders machen, kaputt.

Vor allem, wenn ein paar Tage später im Viertelfinale Spanien gegen Deutschland kein Elfmeterpfiff erfolgt, obwohl die Hand den Verlauf des Balles maßgeblich verändert hat. Oder noch ein paar Tage später im Halbfinale Niederlande gegen England doch wieder, für alle Beteiligten überraschend, ein Pfiff erfolgt.

Ob der Videobeweis ein Gewinn für das Fußballspiel ist oder nicht, soll an dieser Stelle nicht bewertet werden, aber der Fußball hat Jahrzehnte ohne den Videobeweis überstanden und das, ohne Attraktivität einzubüßen. Es gibt dadurch das legendäre Wembley-Tor von Geoffrey Hurst im Finale der WM 1966 zwischen England und Deutschland, bei dem der Ball mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht hinter der Linie war und das Spiel sogar zugunsten Englands entschied. Aber auch das nicht gegebene Tor der Engländer im WM-Achtelfinale 2010 zwischen England und Deutschland, bei dem der Ball klar hinter der Linie war und Deutschland somit das Weiterkommen ins Viertelfinale ermöglichte.

Ausgleichende Gerechtigkeit? Vielleicht, vielleicht auch nicht. In jedem Fall konnten alle Emotionen ehrlich ausgelebt werden und mussten nicht verzögert stattfinden oder unterdrückt werden.