Euphorie braucht Bremse
Österreich müht sich zu einem Sieg in der Slowakei und schießt dann die Türkei mit 6:1 aus dem Happel-Oval. Eine Einordnung scheint notwendig..
+ + 90minuten.at PLUS - Ein Kommentar von Georg Sohler + +
Österreich ist in Sachen Fußball zwischen den Extremen gefangen, diese heißen himmelhochjauchzend und zutodebetrübt. Wer alt genug ist, erinnert sich an den 27. März 1999. Das Nationalteam verlor in Spanien mit 0:9. Zutodebetrübung, falls es dieses Wort gibt. Nun, nach einem 6:1 gegen die Türkei, eine neue Wortschöpfung: Himmelhochjauchzung. Wobei, das stimmt nicht. In die Freude über den hohen Sieg gegen starke Türken mischen sich von den Spielern bis zum letzten Fan genügend Stimmen, die Rangnick und Co. noch nicht vor dem in das Höhehieven des Coupe Henri Delaunay am 14. Juli in Berlin sehen. Zu geschunden scheint die heimische Fußballseele, etwa durch das Hochjazzen vor der Euro 2016. Wie ist das Duell mit der Türkei und ferner jenes mit der Slowakei einzuordnen?
Die Idee greift
Es mag abgedroschen klingen und gerade hierzulande einige ärgern, aber Ralf Rangnick hat mit der Auswahl der Spieler und mit dem Fußball, den er spielen lässt, aktuell mehr als nur recht. Das aus seiner Sicht „zu gute“ Resultat kam durch das Rangnick'/Red Bull'sche Pressing zustande. Tor 1 resultierte aus einem ungestümen Ballgewinn von Romano Schmid am gegnerischen Sechzehner. Treffer Nummer 2 kam nach einem Laimer-/Schlager-Pressing. Die Elfmeter entstanden nach gefälligen Kombinationen. Rangnick resümierte, dass dies eben die Prinzipien seines Fußballs sind.
Breiter Kader
Dazu kommt noch, dass sich die Herren am Feld sehr gut anstellten, auch wenn viele eigentlich gar nicht gespielt hätten. In der Defensivzentrale fehlt David Alaba. Saša Kalajdžićist leider wieder schwer verletzt, Marko Arnautović plagt sich aktuell auch herum. Marcel Sabitzer fiel kurzfristig aus, mit Philipp Lienhart musste zudem ein weiterer starker Innenverteidiger passen. Alle wären bei Fitness Kandidaten für die Startelf. Und dann waren noch einige nicht am Feld, wie Lenker Grillitsch, Köln-Kapitän Kainz und sein Bremer Pendant Friedl, der noch nicht in Deutschland angekommene Adamu, der in Ungnade gefallene Grüll. Feyenoord-Export Trauner und, und, und. Dennoch 6:1.
Aber Achtung
Dennoch liefen an diesem denkwürdigen Dienstagabend viele Dinge sehr gut für rot-weiß-rot. Wer schnell 1:0 führt, tut sich generell leichter. Die ersten drei Tore hätte ein Klassekeeper vermutlich allesamt gehabt. Uğurcan Çakır hatte einen mehr als gebrauchten Tag, seine Vorderleute ebenfalls. Dazu kann man auch in Zeiten des VAR trefflich drüber diskutieren, ob Schmids Attacke nach 100 Sekunden nicht doch ein Foul war und ob Laimer beim ersten Strafstoß wirklich elferwürdig gefoult wurde. Den einen Schubser hätte so manch anderer Referee als Foul gesehen, den zweiten wiederum nicht.
Und noch mehr
Neben diesen Dingen liefen auch Entscheidungen klar in Österreichs Richtung. Wer nach zwei Minuten in Führung geht, kurz vor und nach der Pause trifft, der hat die Tore schon zu den berühmten richtigen Zeitpunkten geschossen. Zudem verlor Österreich den Faden, der türkische Ausgleich war mehr als nur verdient. Die Gäste zeigten auch auf, dass sie sich darauf verstehen, mit Härte, Ballsicherheit und Gegenpressing Österreich vor Probleme zu stellen. Logisch, Alaba und Sabitzer wären für die Zentrale aufgelaufen, hätten es vielleicht noch einen Tick besser gelöst, das vorhandene Personal hatte seine liebe Not. An Bayern-Export Laimer lief die erste Halbzeit fast vorbei.
Berechtigte Euphorie mit Aber
Nach außen hin formulierten vom Teamchef abwärts alle, dass man nun keine Bäume in die Höhe wachsen lassen sollte. Die Niederlande und vor allem Frankreich sind ganz andere Kaliber, so weit, so bekannt. Aber auch Polen wird in einem Bewerbsspiel, DEM Spiel um das Achtelfinale, eine andere Hausnummer sein. Wenn Xaver Schlager nach dem Spiel sagt, dass die EM „entscheidend, davor ist alles eigentlich scheißegal“, hat er vollkommen recht. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die Herren im Nationalteam Medienprofis sind. Ein 6:1 ist im Fußball immer außergewöhnlich, übertriebene Selbstlobhudelei geziemt sich alleine aus Respekt vor dem Gegner nicht. Und natürlich hat das Team seit Ralf Rangnicks Amtsantritt Riesenschritte nach vorne gemacht.
Aber alle Beteiligten – Medien und Fans mit eingeschlossen – sind gut beraten, mit der richtigen Dosierung Richtung Europameisterschaft zu fahren. Es ist nicht alles gut und nach möglichen Niederlagen in den letzten beiden Tests gegen Serbien und die Schweiz ist nicht alles schlecht. Kann gerade hierzulande nicht oft genug betont werden.
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