Özil: Sündenbock und Scheinmoral

Die Geschichte, die seit dem gemeinsamen Foto von Mesut Özil und Kollegen mit dem türkischen Präsidenten durch die Gegend geistert, ist eine, die an Scheinheiligkeit, Grauslichkeiten und Doppelmoral kaum zu überbieten ist.

Ein 12 Meter von Jürgen Pucher

 

Mesut Özil setzt mit seinem Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft einen vermeintlichen Schlusspunkt rund um die Debatte zu seiner Person, die vor, während und nach der Weltmeisterschaft stattgefunden hat. Ein wenig wurde das Ganze schon im 12 Meter zum Gruppenphasenresümee Ende Juni an dieser Stelle thematisiert. Nämlich diesbezüglich, wie der Fußball einen Spiegel der Gesellschaft darstellt. Die „Özil-Story“ und die involvierten Protagonisten tun dem Argumentarium einen weiteren Gefallen und unterstreichen diese These doppelt.

Die alte und die neue Heimat

Der Fußballer des FC Arsenal, der für sein gemeinsames Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dann für seine Leistungen bei der Weltmeisterschaft massiv kritisiert wurde, verkündete in einer Aussendung seine Gedanken zu den letzten Wochen. Er beginnt mit Erklärungen, in denen er festhält, das Foto mit dem autoritären Präsidenten nicht zu bereuen. „[…] das Bild, das wir gemacht haben, hatte keinerlei politische Absichten. Wie ich bereits sagte, hat mich meine Mutter dazu gebracht, niemals meine Herkunft, mein Erbe und meine familiären Traditionen zu vergessen“, beschreibt Özil. Welche Politik der jeweilige türkische Präsident mache und wofür er stehe, sei nachrangig. Es sei für ihn, auch als deutscher Staatsbürger, eine Frage des Respekts, sich mit Erdoğan ablichten zu lassen.

Diese Ansichten unterstreichen noch einmal, dass Mesut Özil wahrlich kein brillanter politischer Kopf sein dürfte und er offenbar auch entweder nicht gut beraten war oder gegenüber guten Ratschlägen resistent sein dürfte. Wer die Brisanz eines solchen Fototermins für einen Fußballstar nicht begreift, der begreift wahrscheinlich auch die Kritik daran nicht. Das ist Özil vorzuwerfen, und dafür muss er sich scharfe Kritik gefallen lassen. Er steht damit auch sinnbildlich für viele Menschen türkischer Abstammung, die in zweiter Generation in Mittel- und Westeuropa leben. Viele haben nicht nur für die Lebenswelt der „neuen Heimat“ etwas übrig, sie können auch der zunehmend autoritär und nationalistisch werdenden Politik in der „alten Heimat“ etwas abgewinnen. Bevor aber jetzt jemand die guten alten „westlichen Werte“ hochhält, an die sich der „Türke“ (die tatsächliche Staatsangehörigkeit wird in solchen Debatten gerne hintangehalten) gefälligst zu halten habe, soll er sich lieber die aktuellen politischen Entwicklungen in sehr vielen Ländern der EU anschauen.

 

Schmutzige Köche rühren in der Giftsuppe

Hier beginnen nämlich die Scheinheiligkeit, der Rassismus und die unglaubliche Sauerei, die die Art und Weise der Kritik an Mesut Özil mehrheitlich beschreiben. Wie die Lemuren kriechen sie alle aus ihren Löchern, die guten Deutschen, die Braven und Anständigen, die, die immer alles gegeben haben für ihr Land, um Mesut Özil noch ein paar mitzugeben. Zum Beispiel der gute alte Ulrich Hoeneß. Der hat Deutschland und seinem Fußball so viel gegeben – außer der abzuführenden Steuer. Dafür war er halt kurz einmal im Häfn, was soll’s? Dieser moralisch lupenreine Mann erdreistet sich zum Beispiel, auf das Übelste nachzutreten. Özil hätte seit Jahren scheiße gespielt, und sein Rücktritt wäre ein Glücksfall für die Nationalmannschaft. Das ist neben einer unglaublichen Boshaftigkeit außerdem noch alles, nur keine sachliche Kritik. Diese dürfte es nämlich durchaus geben. Nicht nur wegen der „Foto-Story“, auch für die fußballerische Leistung.

Was aber mit Özil aus vielen Ecken passiert, ist nur noch eine Vermengung von rassistischen Ressentiments, Vorurteilen und der Kränkung über das blamable Auftreten der deutschen Mannschaft in Russland. Es zeigt außerdem im Tonfall und der Faktenferne, wie der Diskurs dazu in der guten alten westlichen Welt mittlerweile läuft. Es wird eine Giftsuppe gekocht, wo am Ende der „Migrant“ als Sündenbock für das Versagen einer ganzen Gruppe herhalten muss. In guten Sommermärchen-Zeiten war er noch ein Held und integriert und überhaupt. Schon 1998 konnte der gebürtige Kroate Ivica Vastić in Österreich ein Lied davon singen, als ihn die Kronen Zeitung zum „echten Österreicher“ adelte, weil er ein WM-Tor erzielt hat. Als viele Jahre später Marko Arnautović nicht seine beste Zeit gehabt hat, konnte er die B-Seite derselben Platte gut hören. Der kämpfe nicht, der sei doch eigentlich Serbe, und man müsse das schon hinterfragen, ob der überhaupt alles geben würde. Wenn der Wind rauer weht, dann habe man es ja immer schon gewusst. Das funktioniert in der Gesellschaft, das funktioniert umso mehr im Sport. Die Punkte, die es sachlich zu kritisieren gäbe, verschwinden in einer stinkenden Brühe, die der Mob über alles ausgießt, und im Fall Özil helfen die „Offiziellen“ beim DFB fleißig mit.

„Der Moslem war’s“

Teammanager Oliver Bierhoff fiel bald nach dem Turnier mit expliziten Vorwürfen speziell an diesen einen Spieler auf: „Man hätte überlegen müssen, ob man sportlich auf Mesut verzichtet.“ Als wäre das WM-Versagen nicht beim Management, beim Trainer und bei vielen anderen Spielern genauso zu verorten wie bei Mesut Özil. Und nicht zuletzt erstaunt die schier unglaubliche Scheinheiligkeit in dieser Debatte. Der „Veranstalter“, der auch nicht gerade lupenreine Demokrat Vladimir Putin, stellt für das „Establishment“ kein Problem dar. Neben den setzt man sich ohne Bedenken auf die VIP-Tribüne. Genauso neben Mitglieder der saudischen Königsfamilie oder neben wegen Korruption verurteilte kroatische Funktionäre. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Weil es einem gerade ins gesellschaftspolitische Konzept und die laufende Integrations- und Migrationsdebatte in Europa passt, führt ein Foto mit Erdoğan natürlich zu Schnappatmung und Betroffenheit. Nichts an dem Foto war gut. Es war falsch von Özil, es zu machen. Aber der doppelmoralische Zeigefinger und die gegen den Moslem geifernde Volkseele, die auf ihn hereingeprasselt sind, beschreiben ein Messen mit zweierlei Maß, das seinesgleichen sucht.