Im neuen Wohnzimmer
Die Confed-Cup-Premiere im Maracana ist gelungen. Pirlo und Balotelli mit ihren prächtigen Tore für eine gute Show gesorgt und das neue Wohnzimmer des brasilianischen Fußballs scheint bei den Fans gut anzukommen. Von Reinhard Krennhuber aus Rio de Janeiro
Die Fahrt ins Maracana beginnt mit einer Schrecksekunde. Der Eingang an der U-Bahnstation Cinelandia im Zentrum von Rio ist geschlossen. Dasselbe Bild an der nächsten Stiege. Es werden doch nicht die U-Bahnmitarbeiter streiken? Mitnichten. Das dritte Tor ist offen. Die Verantwortlichen wollen den Zustrom der Fans zum Maracana scheinbar schon weit abseits des Stadions genau im Blick haben.
Die Züge verkehren zweieinhalb Stunden vor Matchbeginn schon in sehr kurzen Intervallen und sind gut gefüllt. Die Appelle der FIFA und des lokalen Organisationskomitees, rechtzeitig zu den Spielstätten zu kommen, haben Wirkung gezeigt. Mein Wagon ist voller Brasilianer, doch die wenigsten tragen das gelbe Trikot mit den fünf Sternen. Dafür wird Vereinsliebe zur Schau gestellt: Flamengo, Fluminense, Vasco, Botafogo – die Fans aus Rio sind ebenso wie jene der Corinthians besonders stark vertreten. Daneben sieht man aber auch Anhänger von Gremio, Bahia, Atletico Mineiro und Sport Recife.
Hochachtung für das Wohnzimmer
Ab der Station Sao Cristovao, jenem Stadtteil, in dem Ronaldo das Kicken lernte, klebt das Gros der Fahrgäste an den Fenstern. Das für knapp 500 Millionen Euro komplett umgebaute Estadio Mario Filho, benannt nach einem Sportjournalisten, ist vor ihren Augen aufgetaucht – für die meisten wohl zum ersten Mal. Auch wenn es nicht allen gefällt, schwingt in fast allen Kommentaren Hochachtung mit. Es ist immer noch ihr Wohnzimmer, auch wenn es nicht mehr so ausschaut wie das alte, das zur WM 1950 gebaut worden war und bei der traumatischen Finalniederlage gegen Uruguay ("maracanzo") von 200.000 bevölkert wurde.
An der Station Maracana leert sich der Zug fast vollständig, weiter in die berüchtigte Nordzone Rios will niemand. Der Zustrom zum Stadion über eine Fußgängerbrücke funktioniert klaglos, auf einem erhöhten Tennisschiedsrichterstuhl gibt ein Steward softe Anweisungen an die auf ihn zuströmenden Massen ("kein Essen mitbringen", "gelber Sektor rechts, blauer geradeaus"), dazwischen feuert er die mexikanischen und italienischen Fangruppen in der jeweiligen Landessprache an. Das Showtalent der Brasilianer könnte zu einem großen Pluspunkt bei der Austragung der Weltmeisterschaft werden. Beim Confed-Cup sind die Brasilianer fast noch unter sich: 95 Prozent der Karten wurden im Inland verkauft.
Ein Stück weiter passiere ich die ersten Spezialeinheiten der Polizei. Zum Einsatz kommen die in Kampfmontur posierenden Einsatzkräfte jedoch im Gegensatz zum Vortag nicht. Beim Eröffnungsmatch zwischen Brasilien und Japan war die Polizei vor dem Mané-Garrincha-Stadion in Brasilia gegen friedlich protestierende WM-Gegner äußerst hart zur Sache gegangen. Es gab 20 Festnahmen und 50 Verletzte, einige unbeteiligte Zuschauer wurden in Panik versetzt. Der bekannte ESPN-Kommentator Paulo Vinicius Coelho kritisierte das Polizeiverhalten als unangemessen. In den Tagen zuvor sah sich die brasilianische Polizei nach Prügelszenen gegen friedliche Demonstranten in Sao Paulo bereits ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt.
Kaum WM-Gegner vor dem Maracana
Vor dem Maracana sind kaum WM-Gegner auszumachen. Nur vor einem der Haupteingänge im Schatten der Statue des 1958er Weltmeisterkapitäns Bellini hat eine Frau ein kritisches Transparent gehisst, gegen die Folklore der absurd verkleideten Mexiko-Fans nebenan hat sie aber keine Chance. Ein paar Meter kommt es zu einer Choreografie von rund 20 weiß angemalten Aktionisten, die einen Bibelspruch entrollen. Was sie genau damit bezwecken wollen, bleibt unklar, weil sie keinen Mucks von sich geben und keine schriftlichen Infos verteilt werden. Klarer ist die Message einiger gelb gewandeter Jugendlicher. "Jesus transforma", steht auf ihren Shirts. Es sind die Jünger der Convenção Batista Brasileira – evangelische Fundamentalisten, die im vergangenen Jahrzehnt enormen Zulauf in Brasilien erhalten haben. Dazwischen mischt sich auch weltlicher Protest. "Eu sou 20 Centavos" (Ich bin 20 Centavos), steht auf dem selbstgemalten Leiberl eines Studenten, der mit der Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr nicht einverstanden ist.
Doch genug der Demos – in Kürze wird Fußball gespielt. Beim Betreten des Innenraums des Maracana macht sich Ehrfurcht breit. Nach Passieren der letzten Akkreditierungskontrolle weicht sie ein bisschen der Ernüchterung. Das Stadioninnere wirkt etwas steril und austauschbar. "Ein bisschen wie Stuttgart", wie ein deutscher Kollege bemerkt. Das ist zwar zynisch, er hat aber nicht völlig unrecht. Denn die sanft ansteigenden Sitzplatzränge mit einem Logenring in der Mitte kennt man doch von vielen Stadien in Europa. Das Maracana hat seine ursprüngliche Charakterist verloren und ist nach dem Umbau im modernen Fußball angekommen. Die Kapazität wurde auf knapp 79.000 Besucher gedrückt, dafür gibt es 125 klimatisierte VIP-Logen. Vor diesen "camarotes" wurde sehr viel Platz gelassen, damit die geldigen Besucher wie auf einer Terrasse auch die Stadionatmosphäre genießen können. Fragt sich nur, ob sich die Logen auch füllen werden, wenn Flamengo in der Meisterschaft nicht gegen Fluminense, sondern eine Provinzmannschaft aus Goiania oder Ceara spielt.
Flamengo und Mexiko-Fans testen die Akustik des Maracana. Bombe!
Die Flamengo-Fans sind es auch, die dem Stadion Mitte der ersten Hälfte Leben einhauchen. Also sie einen bekannten Chant losschmettern, schnackeln die restlichen Besucher mit den Ohren. Davon ermutigt singen auch die Mexikaner auf einmal in zuvor nicht geahnter Lautstärke. Bei aller verständlichen und unverständlichen Kritik: Die Akustik im Maracana ist außergewöhnlich. Das wird auch klar, als das Spiel vor der Pause deutlich abflaut. Deutlich ist das Gemurmel im Zuschauerraum zu hören.
In der zweiten Hälfte kommt es nur noch zu Gesängen, als Balotelli den überlegenen Italienern mit seinem Tor den Sieg sichert. Die Liebe der Fans war vorher auch schon Andrea Pirlo nach seinem prächtigen Freistoßtreffer zu teil geworden. Es zeigt sich das Feinschmeckertum der brasilianischen Fans. Nach Schlusspfiff leert sich das Stadion relativ schnell, doch kaum einer geht, ohne noch vorher ein letztes Erinnerungsfoto vom Maracana geschossen zu haben. Bei der PK der Trainer im mit edlem Holz vertäfelten Pressesaal, will ich den italienischen Teamchef Cesare Prandelli nach seinen Eindrücken zur Atmosphäre und zum Stadion fragen. Doch ich komme nicht zum Zug, und so muss ich die Frage selbst beantworten: Es bleibt ein positiver Gesamteindruck und ich halte es mit den Brasilianern, die ihr neues Wohnzimmer – so scheint es – langsam auch ins Herz schließen.
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