Zum ersten Mal trifft Österreich bei einem Großereignis der Herren also auf die Türkei. Das 6:1 beim letzten Duell im März haben die meisten wohl noch bestens in Erinnerung, auf den ersten Blick macht auch die Gesamtbilanz Hoffnung: Nur gegen fünf Nationen - Finnland, Norwegen, die Schweiz, Belgien und Irland - hat der ÖFB mindestens zehnmal gespielt und öfter gewonnen. Die Siegquote von 52,9 Prozent kann sich sehen lassen.
Ganz so einfach ist es aber nicht. Das letzte Pflichtspiel gegen die Türken konnte Österreich im November 1988 für sich entscheiden - die elendslange Durststrecke, die folgen sollte, wurde nicht nur einem Teamchef zum Verhängnis.
Fußball für Österreich
Da wäre zum Beispiel Didi Constantini. Der ehemalige Schüler Ernst Happels leitete ab dem Frühjahr 2009 die Geschicke der Nationalmannschaft, wie unter seinem Vorgänger Karel Brückner agierte Österreich weitgehend unglücklich. In der Qualifikation für die Europameisterschaft 2012 hatte man es aber auch wirklich nicht einfach: Neben Deutschland, Belgien - bereits mit ersten Teilen der "goldenen Generation" -, Kasachstan und Aserbaidschan war auch die Türkei Teil der Gruppe. Letztere sah Constantini nach der Auslosung gleichauf mit dem DFB als Topmannschaft, ÖFB-Präsident Leo Windtner nannte beide als "publikumswirksame Gegner". Davon, tatsächlich zum Turnier fahren zu dürfen, war Österreich in der Folge eigentlich immer weit weg.
Nach Pflichtsiegen gegen die beiden Außenseiter der Gruppe gelang in zwei Spielen gegen Belgien nur mehr ein Punkt. Das denkwürdige 4:4 in Brüssel blieb vor allem dank Stefan Maierhofer - "Das ist Fußball - Für Österreich!" - in Erinnerung. Gegen die Türkei ging es dann im Frühjahr 2011 ums Überleben - die Stimmung im Team war bereits angeknackst, der Teamchef angezählt.
Ohne Sebastian Prödl, Marc Janko und Zlatko Junuzović setzte Constantini auf eine defensive Herangehensweise - im mit 50.000 Fans gefüllten Şükrü Saracoğlu Stadion reichte das nur für ein 0:2. Der damalige Hoffenheim-Legionär David Alaba machte sein achtes Länderspiel, Stefan Maierhofer vergab einen Elfmeter und geriet deshalb nach dem Spiel mit Marko Arnautović aneinander - kurz gesagt: Das ÖFB-Team macht heute mehr Spaß als damals.
Das Thema EM 2012 war damit eigentlich ad acta gelegt, in der Qualifikation wurde trotzdem weitergespielt. Nach zwei Pleiten gegen Deutschland war die Türkei zu Gast in Wien. Bei einem Sieg hätten noch einmal vorsichtige Hoffnungen aufkeimen können, am Ende blieb nur ein unterhaltsames 0:0. Der türkischen Spielergeneration um Hamit Altıntop, Burak Yılmaz, Arda Turan, Volkan Demirel, Nuri Şahin und Emre Belözoğlu hatte der ÖFB damals wenig entgegenzusetzen. Nach dem Unentschieden nahm Didi Constantini freiwillig den Hut. Es wäre ihm erlaubt gewesen, das Team durch die letzten beiden Quali-Spiele zu führen, er entschied sich anders.
Brückner durfte noch kurz bleiben
Kurzzeit-Teamchef Karel Brückner stand schon wenige Monate nach seinem Amtsantritt ordentlich unter Druck. Die zurückhaltende Spielweise des Tschechen brachte wenig Erfolg - das freundschaftliche Duell mit der Türkei im November 2008 wurde von Andreas Ivanschitz als "Schlüsselspiel" beschrieben, um die verloren gegangenen Euphorie nach der Heim-EM zurückzuholen.
Ohne Stammkräfte wie Alexander Manninger, Marc Janko und Emanuel Pogatetz war die Personalsituation des ÖFB bereits angespannt, die mangelnde Spielpraxis von Ivanschitz, Martin Stranzl und Sebastian Prödl trug weiteres dazu bei. Trotzdem ging Österreich überraschend mutig in die Partie, der im Strafraum ungedeckte Andi Hölzl traf mit einem hohen Kopfball zum 1:0. Nach einer halben Stunde war der Offensivdrang aber wieder gebrochen, viermal musste Österreichs Torwart Michael Gspurning bei seinem Debüt insgesamt hinter sich greifen. Tuncay Şanlı gelang ein Hattrick, Hölzl immerhin noch ein zweiter Treffer. 23.100 Zuschauer:innen sahen das 2:4 im Ernst-Happel-Stadion - ein Sinnbild für die damalige Situation der Nationalmannschaft.
Dass Brückner nicht schon nach diesem Spiel gehen musste, lag wohl auch an der Situation im ÖFB-Präsidium. Friedrich Stickler war kurz zuvor zurückgetreten, Leo Windtner erst ab Ende Februar 2009 im Amt - dazwischen verantwortete der Teamchef noch eine Niederlage gegen Schweden, kurz darauf musste er gehen.
Chancenlos im Playoff
Auch die Teamchef-Laufbahn von Otto Barić hat die Türkei auf dem Gewissen. Auf dem Weg zur Weltmeisterschaft 2002 in Korea und Japan konnte sich Österreich hinter Spanien auf dem zweiten Gruppenplatz der Qualifikation positionieren. Nicht ohne Turbulenzen: Wenige Wochen nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 sollte der ÖFB ein entscheidendes Gruppenspiel in Israel bestreiten. Neun Spieler - Roland Kirchler, Walter Kogler, Robert Ibertsberger, Alfred Hörtnagl, Edi Glieder, Martin Hiden, Christian Mayrleb, Didi Kühbauer und Günther Neukirchner - protestierten und verließen das Teamcamp, was ihnen Ärger mit Barić und ÖFB-Präsident Beppo Mauhart einbrachte. Letztendlich wurde das Spiel verschoben: Der damals noch nicht aufgeklärte Abschuss eines Flugzeuges, das in Tel Aviv gestartet war, bewegte die FIFA zum Umdenken.
Gespielt wurde statt Anfang erst gegen Ende Oktober, kurz darauf stand das Playoff auf dem Plan - der Gegner stand in Form der Türkei bereits fest. Mit einem Unentschieden war Österreich das Weiterkommen gewiss. Das Spiel ging in die Geschichte ein: Andi Herzog traf erst in der 92. Minute per Freistoß zum 1:1. "Ich werde hier inzwischen mit Orangen, mit Steinen, mit allen möglichen Gegenständen beschossen - das wird der FIFA gemeldet. Es ist für sie zu Hause völlig wurscht, ich möchte es Ihnen aber sagen, unter welchen Umständen wir hier arbeiten" - so der legendäre Kommentar von ORF-Reporter Hans Huber im Anschluss.
Von all dem unbeeindruckt blieb der türkische Trainer Şenol Güneş, der sich seiner Sache im Vorfeld sicher war: "Wir werden schlagen, wer immer kommt." Barić traf im Vorhinein eine nicht unumstrittene Entscheidung: Alle neun Spieler, die sich vor dem Israel-Spiel aus dem Kader zurückgezogen hatten, mussten zu Hause bleiben. Damit verzichtete er auf mehrere Stammspieler - in den drei Qualifikationspartien vor dem Vorfall standen jeweils vier von ihnen in der Startelf. Trotzdem schlug sich Österreichs Nationalteam in Wien lange gut. Ein Tor von Okan Buruk in der 60. Minute entschied das Hinspiel zugunsten der Gäste, ein 0:1-Rucksack für Istanbul schien angesichts einer torgefährlichen Offensive um Hakan Şükür aber glimpflich.
Vor dem Rückspiel ordnete Andi Herzog die Chancen auf 30:70 ein, der Druck war aber deutlich gestiegen. In deutschen Medien wurden die "Ösis" schon zu "Dösis", das Selbstvertrauen der türkischen Akteure noch größer als ohnehin schon. Das Ali Sami-Yen-Stadion war mit 25.000 Zuschauer:innen ausverkauft, wurde damit zum befürchteten Hexenkessel. Ein von Barić erhofftes frühes Führungstor hätte dem entgegenwirken sollen, es kam aber nicht. Stattdessen ging für die ÖFB-Auswahl - die gegenüber dem Hinspiel an einigen Positionen umgestellt wurde - alles schief. Neben Şükür trafen Bastürk, Buruk und Arif Erdem, letzterer sogar doppelt. Die ÖFB-Delegation musste nach dem 0:5-Debakel acht reservierte Tickets für den Flug zur WM-Gruppen-Auslosung zurückgeben - Barić Amtszeit endete eine Woche später, sein Vertrag wäre bei einer erfolgreichen Qualifikation automatisch verlängert worden.
Für die Türkei wurde die Weltmeisterschaft 2002 zum Erfolg: Erst im Halbfinale unterlag das Team dem späteren Sieger Brasilien, konnte sich aber gegen die Gastgeber aus Südkorea den dritten Platz sichern.
Spitz von Izmir
Nicht alle Begegnungen mit der Türkei endeten aus österreichischer Sicht unerfreulich. Wie zu Beginn erwähnt: Die Gesamtbilanz ist positiv, zwischen den Jahren 1948 und 1988 sogar nahezu makellos.
Bei einem besonders gut in Erinnerung gebliebenen Duell hatten - wie soll es auch anders sein - Herbert Prohaska und Hans Krankl ihre Füße im Spiel. Am 30. Oktober 1977 lief Österreich in das mit 80.000 Zuschauer:innen gefüllte Atatürk Stadion in Izmir ein. Als Tabellenführer der Qualifikationsgruppe - vor der DDR, den Türken und dem von Beginn weg chancenlosen Malta - war man auf dem besten Weg in Richtung WM 1978.
Die Stimmung rund um das Spiel war einigermaßen aufgeheizt: Im Camp des ÖFB-Teams hing eine Karikatur mit dem Titel "1529 und 1683: Türken vor Wien - 1977: Österreicher vor Izmir". Die 'APA' ließ sich sogar dazu hinreißen, einige unsportliche Vorgänge in der Türkei als "totalen Krieg" zu bezeichnen. Ein heruntergekommener Bus als Transportmittel für Prohaska & Co., ein schlecht beleuchteter Trainingsplatz, laute Fans vor dem österreichischen Teamhotel. Kapitän Robert Sara erklärte später: "Vor ein Uhr früh war an Schlaf nicht zu denken". Dazu kam ein Disput über die Farbe der Trikots: Dem ÖFB wurde schriftlich ein Antreten in rot-weiß zugesichert, letztlich musste man sich aber ein schwarzes von einem Verein aus Izmir organisieren und kurzfristig umgestalten.
Wesentlich weniger spektakulär als der Vorlauf entwickelte sich die Partie selbst: "Der spielbeherrschende Faktor ist der Fehlpass", konstatierte ein Bericht. Erst in der letzten halben Stunde wurde es wirklich spannend, es ergaben sich Großchancen auf beiden Seiten - eine Niederlage hätte für Österreich noch zum Problem werden könnten. Dann aber gelang Hans Krankl ein Durchbruch auf dem linken Flügel: Der Stürmer zog an allen Verteidigern vorbei, die eigentlich missglückte Hereingabe erreichte ihr Ziel - Willi Kreuz - nicht. Dafür aber Herbert Prohaska, der ebenfalls mitgeeilt war und den Ball am Torwart vorbei spitzeln konnte.
Bann vor dem Bruch
Im Achtelfinale der Euro 2024 könnte Österreich den ersten Pflichtspiel-Sieg gegen die Türkei seit 36 Jahren feiern - die Mehrheit der Beobachter:innen sieht Österreich sogar in der Favoritenrolle. Auch wenn Ralf Rangnick sicher im Teamchefsessel sitzt, lehrt die Vergangenheit aber, die Türkei als Gegner ernstzunehmen - zu oft war sie ein Stolperstein für den ÖFB.