Qatar – Wer ist der umstrittene WM-Gastgeber? [Reportage]
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Qatar – Wer ist der umstrittene WM-Gastgeber? [Reportage]

Von der Vergabe vor zwölf Jahren bis in die Gegenwart gibt es Kritik. Doch wer ist das Land am Golf? 90minuten.at hat sich auf Spurensuche begeben.

+ + 90minuten.at PLUS – Von Georg Sander + +

 

Sport und Politik gehen seit Jahrzehnten Hand in Hand. Die zweite Weltmeisterschaft in Italien 1934 wurde wie Olympia in Berlin zwei Jahre später vom Faschismus als Propaganda-Instrument missbraucht. Doch auch in jüngerer Vergangenheit machte gerade der Fußball keinen Bogen um Diktaturen. 1978, als das legendäre Cordoba-Match ausgetragen wurde, herrschte in Argentinien eine Militärdiktatur. Die WM mit der Schande von Gijon vier Jahre später wurde 1966 an Spanien vergeben – Diktator Franco herrschte noch bis 1975. Zwar waren die Turniere der jüngeren Vergangenheit in demokratischen Ländern wie Mexiko, den USA, Frankreich, Japan/Südkorea, Deutschland, Südafrika und Brasilien. Zumindest ab der Vergabe der WM 1998 berichten internationale Medien jedoch von gekauften Stimmen oder gar Korruption.
 
Für die US-Justiz ist klar: die Weltmeisterschaften an Russland (2018) und nun eben Qatar waren gekauft. Gekickt wurde in Russland, gekickt wird in Qatar. Und das, obwohl beide Länder mit ihrem Engagement nicht nur den Sport im Fokus haben.

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Worum geht es Diktaturen und dem Sport? Es gab Hitlers Rassenwahn und den sportlichen Machtkampf in der Zeit des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion? Und jetzt: Heutzutage nennt man es Sportwashing. Die moderne Gesellschaft strebt nach Freiheit, die meisten Menschen wollen leben und konsumieren wie wir im globalen Norden bzw. dem Westen. So viel Freiheit wollen Diktaturen nicht zulassen und der Sport eignet sich in ihren Augen, ihre Menschenrechtsverletzungen und Unfreiheiten zu kaschieren. Das macht China so, das macht Russland so und eben auch Qatar. Doch wer ist dieses Land in der Größe von Oberösterreich?

 

Das unbekannte Land

Eine große Bedeutung spielte die Halbinsel am Golf jahrhundertelang nicht. Erst im 18. Jahrhundert gründeten Beduinen das Dorf al-Bid, heute Doha. Mit des 19. Jahrhundert nutzen Piraten die Küste, die britische Ostindien-Kompanie sah die Handelsrouten gefährdet und griff ein. Weil es 1867 zu einem Kampf um die Herrschaft über Qatar kam, beendete das Vereinigte Königreich den Krieg und sorgte für Frieden. Die Verbindungen zu Bahrain wurden gekappt. In jener Zeit wollte auch das Osmanische Reich Einfluss gewinnen. 1913 engagierte sich das Vereinigte Königreich wieder und Qatar war in weiterer Folge bis 1971 Kolonialmacht. Die Herrschaft des Al Thani-Clans wurde nie unterbrochen. Seit 2013 ist Tamim bin Hamad Al Thani absolutistischer Herrscher über das islamische Emirat, in dem die Scharia gilt.

In den 1930er-Jahren fand man am Jabal Dhukan erstmals Öl, 1949 wurde das erste Erdöl exportiert. Daneben hat der Wüstenstaat mit dem North Gas Field das weltweit größte bekannte Erdgasvorkommen. Mit dem Export fossiler Brennstoffe kam es auch zu einer massiven Bevölkerungsentwicklung. Lebten Mitte des 20. Jahrhunderts nur knapp 50.000 Menschen in dem Land, verzehnfachte sich diese Anzahl bis in die 90er. In den 00er-Jahren übersprang die Bevölkerung die Millionenmarke, aktuell leben zwischen 2,7 und 2,9 Millionen Menschen dort – der Anteil der Qataris liegt bei zehn Prozent.

 

Sport und Terror

Wer sich übrigens Sorgen macht, Qatar könnte keine Sportgroßereignisse stemmen, wird eines Besseren belehrt. Das Emirat investiert massiv in den Sport. Seit 1963 wird in einer Liga gekickt, Spieler wie Mario Basler, Gabriel Batistuta, Marcel Desailly oder auch James Rodriguez kickten in der Stars League. Seit den 90ern gibt es Tennis-Turniere. Motorad-WM, Tischtennis-WM, Squash-WM, die Qatar-Rundfahrt für Rad, Leichtathletik-Hallen-WM, Westasienspiele, Asienspiele, Fußballasienmeisterschaft (2011), Handball-WM der Männer (2015) Fahrrad-Straßen-WM (2016), die Turn-WM (2019=, die Leichtathletik-WM (2019) oder doe Formel 1 sind nur einige Beispiele. Dazu gönnt sich das Land mit der Aspire Academy (ab 2004) eine Sportakademie, die weltweit ihresgleichen sucht.

Mit dem Qatar Investment Authority, einem hunderte Milliaden US-Dollar schweren Fonds, wird zudem strategisch investiert. Die Qatar Holding ist nicht nur Eigentümer von Paris-St.-Germain, sondern hält auch darüber hinaus bei internationalen Unternehmen einige Beteiligungen. So hält man 17 Prozent Stammaktien an Volkswagen, investiert bei Siemens, dem Logistik-Unternehmen Hapag-Lloyd sowie den Banken Barcaly's, Credit Suisse und der Deutschen Bank. Die Harrods Gruppe gehört zu 100 Prozent dem Staatsfonds, der Londoner Heaththrow Flughafen zu 20 Prozent. Man investiert in Landwirtschaft, Immobilien oder auch Medien, die Holding ist etwa bei der französichen Mediengruppe Lagardère der mächstigste Einzeleigentümer. Ebenso investiert man beim russischen Öl-Konzern Rosneft. Laut Mena-Wacht, einem unabhängigen Nahost-Thinktank, beläuft sich das qatarische Vermögen in Frankreich auf 25 Mrd Euro, im Vereinigten Königreich auf 46, in Deutschland auf 25.

 

Darauf hinweisen, was Qatar abseits des Sports macht

Die Engagements sind langfristig, vielleicht schätzt sie die freie Welt deshalb so enorm. Da kann man leicht übersehen, dass die Qataris die umstrittene Muslimbruderschaft bei ihrer Re-Islamisierung unterstützt, genauso wie die libanesische Hamas. Sport und Terror also. Der Wiener Nahost-Thinktank resümiert: „Qatar versteht es meisterhaft, sich gegenüber allen Seiten zu öffnen und dabei unbeirrt die eigenen Ziele zu verfolgen: Es füttert den Westen mit der einen Hand und schlägt ihn mit der anderen.“ Das Wegsehen betrifft wohl auch die toten Gastarbeiter aus ärmeren Ländern. In dem Bericht sagt Katja Müller-Fahlbusch von Amnesty International, dass sie keine Verbesserungen auf breiter Front sehe. Zwar habe sich auf den WM-Baustellen nach der Kritik aus Europa einiges zum Positiveren verändert. Das Problem seien aber die vielen anderen Baustellen, die nicht in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt wurden: „Echte Verbesserungen gab es für die etwa zwei Prozent der Arbeiter, die auf den WM-Baustellen eingesetzt waren. Für die restlichen sieht die Lage wesentlich schlechter aus, weil bei ihnen nicht so genau darauf geachtet wird.“

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Alex Feuerherdt: "Eine Fußball-WM ist kein Sachzwang, sondern eine Entscheidung. Ich kann als Regierung nicht sagen: Ich brauche kein Erdgas."

Alex Feuerherdt, bekannter deutscher Journalist und ebenfalls bei Mena engagiert, subsumiert gegenüber 90minuten.at die Rolle des Sports: „Eine Fußball-WM ist kein Sachzwang, sondern eine Entscheidung. Ich kann als Regierung nicht sagen: Ich brauche kein Erdgas. Interessant ist die Korruption bei der FIFA. Es wäre auch eine Aufgabe für Sportvereine, sich anders zu organisieren. Die WM ist nun eine Gelegenheit, hinzuschauen, aber die Menschen schauen ein Fußballspiel. Wir können darauf hinweisen, was Qatar abseits des Sports macht und worauf Qatar seine Softpower nutzt.“

 

Qatar von innen

Bis hierhin: Die Fußball-Weltmeisterschaft hätte nie an Qatar vergeben werden sollen. Doch sie findet jetzt statt und die Welt schaut hin, somit auch 90minuten.at. Wie immer, wenn ein sportliches Großereignis ansteht, sind auch nicht-Sportmedien stark am Ausrichter interessiert. Dieser Abriss der Geschichte und der Engagements sowie alles, was in anderen Medien gelesen werden kann, zeichnen ein durchaus verheerendes Bild. Online und auch in der Redaktion wurde im Vorfeld aber auch diskutiert, dass die Zustände in Qatar hinsichtlich Menschenrechte nicht zu Europa passen – aber, das ist auch die persönliche Meinung des Autors – auch die EU seine Grenzen im Mittelmeer zu einer Todesfalle macht, Gastarbeiter in der Landwirtschaft oder der Fleischindustrie ausgebeutet werden und auch, siehe Ungarn oder Polen, Minderheitenrechte beschnitten werden. Wenn also Kritik geübt wird, dann gilt es immer auch, den Blick in den Spiegel zu machen. Der sagt, dass Europa in vielen Bereichen viel weiter ist, aber ein generelles Herabblicken auf andere, in dem Fall jüngere und religiös/gesellschaftlich komplett andere Länder, wenn überhaupt mit Augenmaß geschehen muss.

Auch wenn es 90minuten.at nicht möglich war, sich selbst ein Bild vor Ort zu machen, war man bemüht, nicht nur Medienberichte zu begutachten, sondern begab sich auf die Suche nach Menschen, die in Qatar wirklich gelebt haben. Einer davon ist Andreas Neubauer. Der PR-Spezialist arbeitete von 2014 bis 2020 für die Aspire Academy in der Nähe von Doha und hat den Aufstieg des letzten Jahrzehnts hautnah miterlebt. Heute ist er selbstständiger PR-Consutlant in Östereich und zeichnet aus der Sicht eines Expats ein anderes Bild vom Land.

„Es gibt 2,8 Millionen Menschen in Qatar, nur 300.000 sind Qataris“, erzählt er. „Alle anderen sind wie ich Expats oder Gastarbeiter.“ Die Expats, das sind die High Potentials, die, die dafür sorgen, dass es aus seiner Sicht keine Zweifel gibt, dass Qatar das Großereignis stemmen kann: „Es hat sich in den Jahren, in denen ich dort war, sehr viel verändert. Sie holen wirklich die besten Leute mit sehr viel Know-How.“ Nebst den Expats gibt es eben die Gastarbeiter, von denen 1,5 Millionen aus dem südlichen bzw. südöstlichen Asien kommen. Man trifft sich beim Einkaufen oder sie sind die Taxifahrer. Zudem gibt es neben den Bauarbeitern mehr als 150.000 Hausangestellte, für die sei die Situation „auch nicht immer rosig“.

 

Nicht vergleichbar

Es gebe auch einen großen Mentalitätsunterschied. In Europa organisieren sich die Menschen in der Regel Unterkunft und alles abseits der Arbeit selbst. Neubauer sagt: „Hier übernehmen das auch oft die Arbeitgeber. Mit dem Geld, das Menschen in Qatar verdienen, bringen sie in ihrer Heimat oft ganze Familien durch. Ich kannte etwa einen Security aus Ghana, eine Kellnerin aus Indien, einen Taxifahrer aus Indien. Ihre Geschichten sind berührend und traurig zugleich. Sie opfern ihr Lebenszeit und schicken das Geld nach Hause, damit es der Familie gut geht. Ihre Kinder sehen sie die meiste Zeit nur über Video-Telefonie.“ Von dem Geld, das diese in Qatar verdienen, kann in den Herkunftsländern eine ganze Familie leben. Aber man dürfe nicht den Fehler machen, jetzt alles in einem komplett anderen Licht zu sehen. Es gebe Quartiere, da teilen sich acht Menschen ein kleines Zimmer. Und dann wäre da noch das Kafala-System.

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"Qatar kann auch ein Sprungbrett sein", meint Andreas Neubauer.

Diese ist eine islamische Tradition, um den Schutz von schwachen und verwundbaren Menschen sicherzustellen. Ein wesentliches Element dabei war, dass der „Bürge“ keine Gegenleistungen für seine Unterstützung verlangen durfte. Die britische Kolonialmacht machte sich dieses System im frühen 20. Jahrhundert zunutze, um ihre Kontrolle in der Golf-Region auszubauen. Wurde es bis dahin weitgehend für die Zusicherung von finanziellen und rechtlichen Bürgschaften verwendet, wendeten die Engländer dieselbe Logik auf den Arbeitsmarkt an und installierten ein System für „Arbeits-Sponsoring“, das Einreise- und Ausreise-Genehmigungen oder Arbeitsbewilligungen einschloss. Nach der Entdeckung von Erdöl und dem rapiden Anstieg der Migration wurde das instrumentalisierte „Kafala“-System von der britischen Kolonialmacht an die lokalen Autoritäten zurückgegeben. Von der ursprünglichen Idee, Menschen dadurch zu beschützen, war aber nichts mehr übriggeblieben und die Qataris wenden es weiterhin an, damit beispielsweise Menschen nicht ausreisen können.

 

„Es hat sich schon viel entwickelt“

„Von den Menschenrechtsverletzungen bekommt man aus den internationalen Medien mit. Wenn man ein offenes Ohr hat, dann hört man schon auch Geschichten von Menschen, die wahnsinnig viel  Geld an Recruiter oder Headhunter zahlen mussten, um überhaupt nach Qatar kommen zu dürfen. Obwohl das eigentlich verboten ist. Viele der Probleme fangen eigentlich in den Ländern an, aus denen die Gastarbeiter herkommen. Es gibt aber durchaus auch Erfolgsstories von Menschen, die mit Niedriglohnjobs nach Qatar gekommen sind, an ihrem freien Tag Fortbildungen gemacht haben, und später in der Lage waren, in ihren ursprünglichen Jobs Arbeit zu finden. Es kann auch ein Sprungbrett sein“, weiß Neubauer. Eine differenzierte Sicht hat er auf das Thema Homosexualität und Qatar. Paaren sei in dem sehr konservativen Staat überhaupt Zuneigung zu zeigen verboten. Ein unverheiratetes Paar, egal ob straight oder queer, dürfe nicht gemeinsam in ein Hotel. Ganz so genau nimmt man es im Emirat auch nicht.

So war etwa der offen homosexuelle Puerto Ricanische Popstar Ricky Martin öfter in Doha gewesen und „auch Frauenfußballteams mit geouteten Spielerinnen bereiten sich in Qatar in der Winterpause vor.“ Passiert sei dort nichts. Und, so Neubauer: „Fußball und Homosexualität, da braucht es überall noch viel Aufklärungsarbeit. Wie viele offen schwule Fußballer gibt es denn?“ Überhaupt, so der Ex-Expat, beleidige die Berichterstattung viele seiner europäischen Freunde vor Ort. „Im Jahr 1940 lebten in Doha gerade einmal 16.000 Menschen, viele waren Beduine, die durch die Wüste zogen und aufgrund der starken Konkurrenz aus Japan, war mit ihre Haupteinnahmequelle – nämlich die Perlenindustrie – total eingebrochen. Zu der Zeit war Qatar eines der ärmsten Länder der Welt bis 1939 Erdöl entdeckt wurde. Das veränderte alles und  Qatar ist ein junges Land, das  es in dieser Form erst seit 1971 gibt. Seitdem hat sich dort schon viel entwickelt. Vielleicht sollte man sich mehr ansehen, was uns verbindet – eben etwa Fußball.“ Man pauschalisiere gerne, ohne das Land zu kennen.

Und nun, so Neubauer, finde die Weltmeisterschaft nun einmal statt. Qatar ist der erste Ausrichter im arabischen Raum und man hätte wohl auch bei Marokko, Ägypten oder Saudi-Arabien viel Negatives gefunden: „Aber der Fußball gehört allen.“

Wie mit der Weltmeisterschaft in Qatar nun umgegangen wird, wird am Ende wohl jeder selbst entscheiden müssen. Dass sie offensichtlich nie hätte vergeben werden sollen, geschenkt. Versäumnisse von Jahrzehnten im internationalen Sport und der Gesellschaft sind offensichtlich nicht in wenigen Jahren aufholbar. Allerdings dürfte die Realtität auch nicht komplett schwarz/weiß sein.

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