„Das Ich darf nicht wichtiger werden als das Wir“ [Exklusiv]
Irene Fuhrmann spricht im Exklusiv-Interview mit 90minuten.at über die Entwicklung des Frauenfußballs und die Ziele für die Euro 2022.
Ein wesentliches Manko ist immer noch, dass wir im Vergleich zu den Top-Nationen zu wenig Breite haben. Was wir aus der Menge an Spielerinnen, die wir faktisch haben in der Spitze machen, möchte ich deshalb schlichtweg als sensationell bezeichnen.
Wir haben mit beispielsweise Dunst, Höbinger, Naschenweng oder Plattner doch eher kleinere Spielerinnen. Aber es gilt eine gute Mischung auf den Platz zu bringen. Sie haben andere Qualitäten, die sie einbringen können. Die rein körperlichen Voraussetzungen können wir nicht ändern. Wir können nicht mehr Schiechtls herbeizaubern.
Historisch wird auf jeden Fall ein Eröffnungsspiel vor 75.000 Zuschauerinnen gewesen sein, das wir in naher Zukunft so nicht mehr haben werden.
Was ich von vielen Frauen mitbekomme, ist die Anerkennung für den Mut, das zu machen. Ich denke, das gibt Ihnen Kraft für ihren eigenen Weg.
++ 90minuten.at exklusiv von Jürgen Pucher ++
Irene Fuhrmann, Teamchefin des österreichischen Frauennationalteams, ist die lange Vorbereitung auf die am 6. Juli beginnende Europameisterschaft in England ein wenig anzumerken. Vor allem die Termine rundherum, so wie dieser, seien sehr intensiv gewesen. Sie und ihr Team empfinden das aber nichtsdestotrotz als Belohnung für die Erfolge der letzten Zeit. Kurz vor der Abreise hat sich Österreichs oberste Fußballlehrerin deshalb ausführlich für 90minuten.at zeitgenommen. Wir haben mit der 41-Jährigen über die Entwicklungen im Frauenfußball seit dem Halbfinale bei der Euro 2017, die Relevanz der Akademie in St. Pölten und das liebe Geld gesprochen. Was es mit dem Vergleich zwischen Frauenfußball und Handball auf sich hat, wie sie ihre Vorbildwirkung sieht und wie lange sie noch Teamchefin bleiben möchte, haben wir außerdem erfahren. Und, ja, es ging auch um das Sportliche: Fuhrmann erklärt, was vor dem großen Auftaktspiel in Manchester gegen Gastgeber England noch zu tun bleibt und was passieren muss, damit sie zufrieden wieder nach Hause fliegen kann.
90minuten.at: Es sind nur noch ein paar Tage bis zum Eröffnungsspiel bei der Europameisterschaft. Sie haben in der Kader-PK gesagt, dass noch einiges zu tun ist bis es losgeht. Andererseits sei aber auch ein wenig Erholung dringend nötig. Kann man überhaupt noch abschalten, angesichts dessen was unmittelbar vor einem liegt?
Fuhrmann: Ich muss abschalten. Es gilt als Führungskraft voller Energie voranzugehen. Ich musste das in den letzten beiden Jahren lernen. Es hilft mir schon, wenn ich einen ausgedehnten Spaziergang machen kann und mich selbst bewege. Das ist wichtig für mich, um ausgeglichen zu sein. Diese Zeit muss ich mir nehmen, weil ich erkannt habe, dass ich nur gute Entscheidungen treffen kann, wenn ich auch auf mich selbst schaue.
90minuten.at: War nicht der ganze Vorlauf zum Turnier mit allem was dazugehört, Testspiele, Medientermine, Planungen, schon anstrengender als alles was in England noch kommt?
Fuhrmann: Mit dem Team zu sein und selbst eingreifen zu können ist mir lieber, als die Zeit dazwischen wenn die Spielerinnen bei den Klubs sind. Vor allem was das mediale Rahmenprogramm betrifft, war es aber sicher eine herausfordernde Zeit in den letzten Wochen. Aber ich glaube, das haben wir insgesamt als Gruppe so eingeordnet, dass wir das als Belohnung für unsere Leistung sehen. Wir haben uns wieder für die besten 16 Teams Europas qualifiziert.
90minuten.at: Stichwort Medieninteresse. Es ist natürlich schön, dass es so viel Coverage rund um das Frauennationalteam gibt wie nie zuvor. Aber ist es nicht auch ein wenig traurig oder frustrierend, wenn das immer nur im Zuge eines großen Turniers der Fall ist?
Fuhrmann: Da geht es nicht nur dem Frauenfußball so. Wenn ich etwa an Handball, Männer und Frauen, denke, dann ist das vergleichbar. Ich nehme das persönlich auch nur im Falle großer Turniere verstärkt in den Medien wahr. So ist das Business. Nichtsdestotrotz wäre wichtig, im Nachgang der Euro medial präsent zu bleiben. Was wir dazu tun können, ist weiter erfolgreich Fußball zu spielen. Das gilt für Nationalteam und die Liga. Dort gilt es weiter daran zu arbeiten noch professioneller zu werden und guten Sport zu bieten. Ich meine aber, der Weg auf dem wir uns befinden ist ein guter.
90minuten.at: Nehmen wir diesen Weg und starten wir 2017, bei der Europameisterschaft in Holland und dem Erreichen des Halbfinales. Wo steht der Frauenfußball aktuell? Was sind die Fortschritte, wo sind die Baustellen?
Fuhrmann: Es ist tatsächlich so, dass ausgehend von diesem Erfolg damals enorm viel im österreichischen Frauenfußball passiert ist. Es konnten Bewerbssponsoren für die heimische Liga und den Cup lukriert werden. Beim Nationalteam selbst haben sich die Bedingungen so verbessert, dass wir diesbezüglich mit den besten mithalten können. 2017 hatten wir zum Beispiel keinen Spielanalysten, jetzt haben wir immer einen fix dabei. Dasselbe gilt für den Athletiktrainer und viele andere Positionen. Mit Karin Gruber wurde zudem im ÖFB eine eigene Personalressource geschaffen, die als Schnittstelle zu allen Landesverbänden fungiert. Das Ziel ist Optionen und Möglichkeiten zu schaffen, um mehr Mädchen zum Fußball zu bringen. Weil ein wesentliches Manko einfach immer noch ist, dass wir im Vergleich zu den Top-Nationen zu wenig Breite haben. Was wir aus der Menge an Spielerinnen, die wir faktisch haben, in der Spitze machen, möchte ich deshalb schlichtweg als sensationell bezeichnen.
90minuten.at: Ein Unterschied zu 2017 ist auch, dass es mehr Optionen auf der Bank gibt. Der Stamm des Teams ist ja bis auf wenige Positionen derselbe wie damals. Auch wenn die Breite insgesamt fehlt, im Nationalteam ist sie größer geworden.
Fuhrmann: Was auf jeden Fall jetzt Früchte trägt ist die 2011 gegründete ÖFB-Frauenakademie. Das war ein Meilenstein, um im Nachwuchs den Anschluss zu schaffen. In diesem Bereich haben wir mittlerweile drei Endrundenteilnahmen vorzuweisen. Man darf außerdem nicht vergessen: Dort nehmen nur acht Nationen Teil, das heißt es gibt sieben Qualifikationsplätze und einen Veranstalter. Ein Großteil dieser Spielerinnen die jetzt neu dabei sind kommen aus dieser Akademie. Es gibt parallel aber immer noch die individuellen Wege abseits der Akademie wie bei Julia Hickelsberger oder Marie Höbinger, die mit 14 Jahren schon nach Deutschland gegangen ist. Das ist im Grunde der Weg, den die meisten aus der Generation davor, Viktoria Schnaderbeck, Carina Wenninger und wie sie alle heißen, gegangen sind.
90minuten.at: Immer ein Thema ist das liebe Geld. Sie haben unlängst einmal gesagt, der Markt gibt es nicht her, dass mehr Geld im Frauenfußball ist. Ist das der richtige Zugang, wenn man die Situation analysiert? Der Markt wird diese Ungleichheit nie ausdifferenzieren. Braucht es nicht strukturelle Regulierung? Müsste nicht der Verband schlichtweg sagen, wir zahlen den Frauen für eine Teilnahme an einer Endrunde gleich viel wie den Männern?
Fuhrmann: Der erste Schritt bleibt immer die Infrastruktur. Dadurch kann der Sport professioneller ausgeübt werden und in Folge steigt die Qualität. Gleiches Geld gibt es bis dato nur in den USA, wo der Fußball allerdings weiblich ist. Aber einige Verbände in Europa, Norwegen oder Spanien zum Beispiel, haben sich inzwischen dazu bekannt, dieselben Prämien für Frauen und Männer auszuschütten. In absoluten Zahlen bleibe ich da zwar vorsichtig, weil ja die UEFA für Frauenturniere viel weniger Geld ausbezahlt als bei den Männern. Aber es bewegt sich etwas und das sind aktuell die nächsten Schritte.
90minuten.at: Kommen wir zum Sportlichen und schauen ganz konkret auf das letzte Vorbereitungsspiel gegen Belgien. Was war gut, was war nicht gut, in diesem letzten Test vor dem Ernstfall?
Fuhrmann: Ein ganz klares Plus war wie das Team mit den kurzfristigen Umstellungen umgegangen ist. Das zeugt von einer gewissen Gelassenheit des Kollektivs in Stresssituationen. Sehr positiv waren außerdem die vielen Ballbesitzphasen, wo wir die Gegnerinnen kontrolliert und dominiert haben. Was wir besser machen müssen, ist im Angriffsdrittel die Box besser zu besetzen, aber auch die Bälle in die Box so zu bringen, dass wir die Mitspielerinnen auch finden und zu mehr Abschlüssen kommen.
90minuten.at: Defensiv war zu sehen, dass unter Druck die Bälle oft hoch und auf die Seite gespielt wurden, wo dann oft ein Ballverlust die Folge war. Kann man sich da noch Verbesserungen erwarten, wenn die verletzten Abwehrspielerinnen wieder zurückkommen?
Fuhrmann: Würde ich nicht unbedingt sagen, das war gegen Dänemark nicht viel anders. Wir haben auch in dem Spiel immer wieder zu schnell vertikal gespielt und nicht genug Geduld oder Reife gehabt das anders zu lösen. Insgesamt finde ich aber, Celina Degen und Marina Georgieva haben das gut gelöst gegen Belgien. Außerdem ist mir schon lieber, sie spielen den Ball auf die Seiten und verlieren ihn dort, als einen riskanteren Ball ins Zentrum, wo die Gegnerinnen eine viel bessere Spielauslösung haben.
90minuten.at: Wo steht das österreichischen Team punkto Athletik? Belgien schien doch wesentlich robuster zu sein.
Fuhrmann: In punkto Athletik sind wir gut aufgestellt. Die Daten bezüglich Umfang und Intensität sind sehr ordentlich. Das andere ist einfach eine Frage der Körpergröße. Das wird uns bei der Euro auch begleiten. England und Norwegen haben sehr große robuste Spielerinnen. Wir haben mit beispielsweise Dunst, Höbinger, Naschenweng oder Plattner doch eher kleinere Spielerinnen. Aber es gilt eine gute Mischung auf den Platz zu bringen. Sie haben andere Qualitäten, die sie einbringen können. Die rein körperlichen Voraussetzungen können wir nicht ändern. Wir können nicht mehr Schiechtls herbeizaubern.
90minuten.at: Wird ein Trainingsfokus für die letzten Tage auf dem Torabschluss liegen?
Fuhrmann: Das wird auf jeden Fall ein Schwerpunkt sein. Wir brauchen hohe Wiederholungszahlen im technischen Bereich. Wir müssen diese Technik unter Druck anwenden können. Unsere Aufgabe als TrainerInnenteam ist es die Spielerinnen ins Angriffsdrittel zu bringen. Dort müssen sie möglichst kreativ und mutig sein. Sie müssen sich was zutrauen. Wenn ich, wie gegen Belgien, nach Wiederanpfiff allein auf die Torfrau zulaufe, muss ich so abgeklärt sein um das Tor auch zu machen. Diese Abgeklärtheit kann nur durch die angesprochenen Wiederholungen erreicht werden.
90minuten.at: Was werden Sie sonst noch in der kurzen Zeit vor dem ersten Spiel mit dem Team machen?
Fuhrmann: Ein wichtiges Thema ist noch die Phase unmittelbar nach einer Balleroberung. Gegen Dänemark war gut zu sehen, dass wir in der Abstimmung dabei nicht gut genug waren. Die Gegnerinnen sind dann oft in einer ungeordneten Situation, die wir nicht gut genug nützen konnten. Und: Sehr wichtig sind natürlich auch die Standardsituationen. Defensiv und offensiv.
90minuten.at: Bei der Europameisterschaft der Männer letztes Jahr war es im ÖFB schon historisch, dass man gegen Nordmazedonien und die Ukraine gewonnen hat. Sie haben davon gesprochen, eine Qualifikation Ihres Teams für die WM 2023 wäre ein historisches Ereignis. Wann wäre die Teilnahme in England in der Nachbetrachtung historisch gewesen?
Fuhrmann: Historisch wird auf jeden Fall ein Eröffnungsspiel vor 75.000 Zuschauerinnen gewesen sein, das wir in naher Zukunft so nicht mehr haben werden. Ergebnistechnisch lasse ich mich nicht festnageln. Wir haben mit England und Norwegen die Titelfavoritinnen und ein Team aus dem erweiterten Favoritinnenkreis dafür in der Gruppe.
90minuten.at: Teamintern wird man wohl von einem Sieg gegen Nordirland ausgehen müssen. Wo sind die notwendigen Extrapunkte eher möglich? Gegen England oder gegen Norwegen?
Fuhrmann: Die Engländerinnen haben in der Vorbereitung die Titelverteidigerinnen aus Holland mit 5:1 vom Platz geschossen. Wir wissen, wir haben gegen sie in der WM-Quali nur 1:0 verloren und konnten einzelne Nadelstiche setzen. Wir müssen versuchen, sie so weit wie möglich von unserem Tor fernzuhalten, wir müssen sehr gut gegen den Ball arbeiten und können uns in jedem Zweikampf ein wenig Respekt verschaffen. Lange Ballbesitzphasen wie gegen Belgien werden wir aber nicht vorfinden. So oder so, realistischer ist es sicher Norwegen am falschen Fuß zu erwischen. Aber: Im Fußball ist immer alles möglich.
90minuten.at: Das Eröffnungsspiel in Manchester wurde jetzt schon mehrmals erwähnt. Es ist ein Spiel vor einer Kulisse, das wenige Fußballerinnen oder Fußballer aus Österreich jemals spielen dürfen. Wie macht man das im Trainerinnenteam, dass diese Situation beflügelt und nicht die Angst überhandnimmt?
Fuhrmann: Ich glaube, es geht darum, dass wir das alle als Belohnung und nicht als Bedrohung sehen. Das gilt es zu verinnerlichen. Wir müssen versuchen die Atmosphäre zu genießen. Was uns sicher hilft: Die Rollen sind ganz klar verteilt. Alles andere als ein Sieg der Engländerinnen wäre nicht nur eine Überraschung, es wäre eine Riesensensation.
90minuten.at: Ist die Floskel: „Man kann in so einem Spiel nur gewinnen.“ ein Unsinn oder funktioniert das psychologisch tatsächlich?
Fuhrmann: Es ist kein völliger Unsinn, weil es ja tatsächlich so ist.
90minuten.at: Sie haben immer wieder, nachdem sie 2020 das Amt von Dominik Thalhammer übernommen haben, gesagt, Sie hätten das Gefühl sich rechtfertigen müssen, weil Sie als Frau diesen Job machen. Ist es durch die erfolgreiche Qualifikation und durch alles was in den letzten Jahren passiert ist, mittlerweile für Sie selbst ein wenig selbstverständlicher geworden, dass Sie Teamchefin sind?
Fuhrmann: Es war nach meiner Ernennung in den Medien einfach ein Riesenthema, dass ich als Frau in einem Frauenteam eine Führungsposition übernehme. Ich habe mir dann gedacht, was wäre los, wenn eine Frau einmal ein professionelles Männerteam übernimmt? Dabei geht es überhaupt nicht darum, ob Frau oder Mann. Es geht darum, wie man die Position lebt. Neben dem Fachlichen Wissen braucht es weitere Kompetenzen, vor allem Menschenführung. Aber ja, in letzter Zeit ist dieses Thema, dass ich das als Frau mache, weniger geworden. Die Erfolge haben dabei sicher mitgeholfen.
90minuten.at: Wie wichtig ist Ihnen die Vorbildwirkung, die Sie in Ihrer Rolle haben?
Fuhrmann: Mir ist das Signal schon sehr bewusst. In erster Linie zählt für mich trotzdem, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Was ich aber von vielen Frauen mitbekomme, ist die Anerkennung für den Mut, das zu machen. Ich denke, das gibt Ihnen Kraft für ihren eigenen Weg.
90minuten.at: Ist Teamchefin der Lebensjob für Irene Fuhrmann? Oder ist es eine Station und dann kommt der nächste Schritt?
Fuhrmann: Das kann ich jetzt nicht beantworten. Ich kann nur sagen: Durch meine persönliche Geschichte gibt es speziell zu diesem Team eine ganz besondere Verbundenheit. Ich empfinde es als absolutes Privileg das machen zu dürfen. Aber Fußball ist schnelllebig und die Entscheidung liegt nicht nur an mir. Ob ich in ein paar Jahren selber sage, ich will etwas Anderes machen, wird man sehen. Solange es mir Spaß macht und ich das Gefühl habe, noch etwas erreichen zu können, möchte ich es jedenfalls weitermachen, wenn mir die Möglichkeit dazu gegeben wird. Der sportliche Erfolg spielt dabei natürlich auch eine Rolle.
90minuten.at: Was muss gewesen sein, damit Sie nach dem Turnier zufrieden sind?
Fuhrmann: Wenn wir uns treu geblieben sind, wenn wir uns nicht von den Rahmenbedingungen oder der Atmosphäre blockieren haben lassen und wenn nicht ein „Ich“ plötzlich wichtiger wird als das „Wir“, dann werde ich zufrieden sein.