Schiedsrichter Harald Lechner: "Weniger Stimmung, mehr Fokus auf Fußball"

Die Geisterspiele sind passé - vorerst und abhängig von der Corona-Ampel. Schiedsrichter Harald Lechner blickt im 90minuten.at-Interview zurück auf das Frühjahr, was anders war und gibt einen Einblick in das Schiedsrichterwesen 2020.

Ich beurteile einen Vorgang im Bruchteil einer Sekunde. Da kann man andere Umstände gar nicht bedenken. Da beeinflussen mich 50.000 genau so wenig wie zehn.

Harald Lechner

Ich kann mich verletzen und bekomme nichts, ich kann schlechte Leistungen bringen und bekomme weniger Spiele. Diese Bedingungen haben wir in Österreich.

Harald Lechner

Die körperliche Komponente ist sehr entscheidend. Wenn ich am Sonntag um 17 Uhr in Altach pfeife und am Montag um acht Uhr im Büro bin, habe ich kaum Regenerationsmöglichkeiten.

Harald Lechner

Es gibt Interpretationsspielraum, anders als beim Tennis. Da geht es drum, ob der Ball drinnen ist oder nicht. Das wird sich auch mit dem Videoschiedsrichter nicht ändern.

Harald Lechner

+ + 90minuten.at Exklusiv + + Das Interview führte Georg Sander

 

In der Zeit der Geisterspiele in der Bundesliga im Frühjahr konnten TV-Zuschauer allerhand Dinge hören, die sonst in der Stadiongeräuschkulisse untergehen. So auch die Schiedsrichter. 90minuten.at hat mit Harald Lechner darüber gesprochen, wie sich die Geisterspiele für den Regelhüter am Feld angefühlt haben. Er gibt auch einen Einblick in die Lage des Schiedsrichterwesens in Österreich 2020 und nennt Indizien, warum Österreich keinen Topschiri hat.

90minuten.at: Herr Lechner, wie haben Sie die letzten Monate seit dem Lockdown im März erlebt?

Harald Lechner: Man muss zunächst einmal dankbar sein, dass uns im Bereich Fußball das Vertrauen geschenkt wurde, als eine der ersten Sportarten wieder zu beginnen. Wir haben die Vorgaben gut umgesetzt und konnten so zeigen, dass es auch möglich ist, unter diesen erschwerten Bedingungen Fußball zu spielen.

 

90minuten.at: Ein Teil davon waren die Geisterspiele. Wie ist es, diese zu pfeifen?

Lechner: Grundsätzlich hört man vermehrt verbale Äußerungen der Spieler. Das geht nicht immer gegen den Schiedsrichter, wie man vielleicht glaubt. Das ist auch die Kommunikation zwischen den Spielern. Ansonsten ist wohl jedem Schiedsrichter klar, dass Kameras da sind, man seine beste Leistung bringen muss, weil die Entscheidungen immer wieder unter die Lupe genommen werden. So viel Unterschied war eigentlich aber nicht. Was ich schon bemerkt hab, war, dass der Respekt der Spieler groß war. Meinem persönlichen Empfinden nach gab es zudem weniger Rudelbildungen, vielleicht ließ sich der eine oder andere nicht durch Fans aufhetzen, dass er sich zu einer Unsportlichkeit hinreißen ließ. Das kann schon sein. Das Verhalten der Spieler war sehr korrekt. Da könnte man schon herleiten, dass durch weniger Stimmung mehr Fokus am Fußball war.

 

90minuten.at: Vielleicht betrifft das mehr die Assistenten, die ja noch näher an den Fans sind, aber lässt sich auch der Schiedsrichter von der Stimmung bei einem Wiener Derby auch beeinflussen?

Lechner: Als Schiedsrichter hat man meist eine 50/50-Chance, ob man ein Vergehen ahndet oder nicht. Im Bruchteil einer Sekunde hat man eine Wahl auf Basis der eigenen Wahrnehmung. Mich beeinflussen die Fans überhaupt nicht, aber man darf nicht vergessen, dass wir auf einem Ohr den Funk zu den Assistenten drinnen haben. Die Außengeräusche gibt es nur auf einem Ohr und man ist so stark auf das Spielgeschehen fokussiert, dass man das Rundherum gar nicht so mitbekommt. Ich würde nicht anders agieren, ob da jetzt zehntausend Zuschauer sind oder nicht.

90minuten.at: Böse Zungen behaupten, dass man die Geisterspielatmosphäre in Mattersburg, der Südstadt oder am Tivoli simulieren konnte...

Lechner: (lacht) Aber es waren trotzdem vorher mehr Leute als zuletzt. Ich glaube, dass es mich nicht beeinflusst hat. Ich beurteile einen Vorgang im Bruchteil einer Sekunde. Da kann man andere Umstände gar nicht bedenken. Da beeinflussen mich 50.000 genau so wenig wie zehn.

 

90minuten.at: Also kein Unterschied?

Lechner: Da müsste man mit Spielern reden, sie lassen sich vielleicht weniger zu einer Unsportlichkeit hinreißen, aber sie wollen sich auch vielleicht noch positiver präsentieren. Das kann auch sein. Vielleicht geht da einer noch mehr über die Schmerzgrenze. In meinen Augen gab es in der Corona-Zeit weniger Kritik, Unsportlichkeiten und Rudelbildungen.

 

90minuten.at: Aber Sie bekommen ohne Fans schon mehr mit, wen der Spieler anflucht – sich selbst, einen Mitspieler oder einen Gegner?

Lechner: Mit Sicherheit. Mit Zuschauern bekommt man vieles gar nicht mit. Da hört man etwas über die Stadionmikrofone, was ich als Schiedsrichter gar nicht mitbekomme. Ich bin ja ganz woanders. Das ist das gleiche mit den Kameras. Da wird gesagt: Es ist eine Tatsache, dass es eine Fehlentscheidung war. Aber man darf nicht vergessen, dass ich nicht dort stehe, wo die Kamera ist. Aber ich will auch anmerken, dass ich in der letzten Runde WSG Tirol gegen die Admira gepfiffen habe, da gab es keine Rudelbildung. Es gab keine Kritik oder Unsportlichkeit, obwohl es damals um alles ging. Sie haben sich voll auf den Fußball konzentriert. Das war von beiden Mannschaften sportlich fair geführt.

 

90minuten.at: Es gibt auch auf Trainerbänken immer wieder Ersatzspieler und Co-Trainer, die sich auch anstacheln lassen und mitteilen, was sie von Entscheidungen halten. Haben Sie den Eindruck, dass auch das weniger wurde?

Lechner: Es ist sich wohl auch jeder Betreuer bewusst gewesen, dass seine Äußerungen leichter zu hören waren. Wenn in einem vollen Stadion wer aufspringt, dann nimmt man es unter Umständen gar nicht wahr. Wenn man schon länger in der Bundesliga ist, kann man die Stimmen von einigen auch zuordnen, dadurch glaube ich auch, dass sich die Verantwortlichen defensiver verhalten haben.

90minuten.at. Freuen Sie sich auch auf Fans im Stadion?

Lechner: Das ist wie bei den Spielern. Der Fußball lebt von der Atmosphäre. Auch für einen Schiedsrichter ist es schöner, vor einem vollen Stadion zu pfeifen. Aber man weiß umgekehrt auch, dass die nicht wegen dir da sind. Sie sind das, was den Fußball ausmacht, mit allen Vorteilen und auch kleinen Nachteilen.

 

90minuten.at: Schiedsrichter werden nach einem fixen, öffentlich einsehbaren Schema bezahlt. Man wird nicht von heute auf morgen Bundesligaschiri, wie haben Sie die Zeit der auch finanziellen Unsicherheit erlebt?

Lechner: Schiedsrichter in Österreich sind reine Amateure und ich kann nur von mir sprechen: Ich bin 40 Stunden angestellt, gehe von Montag bis Freitag meinem Job nach. Mein Training muss ich an den Job anpassen. Natürlich muss ich mir den einen oder anderen Urlaubstag für die Schiedsrichterei nehmen, aber wir sind eben reine Amateure.

 

90minuten.at: Egal ob man 20 oder 40 Stunden arbeiten geht, rechnet man ja dennoch mit dem Geld vom Schiedsrichtern.

Lechner: Ich kann mich verletzen und bekomme nichts, ich kann schlechte Leistungen bringen und bekomme weniger Spiele. Mein persönlicher Fokus gilt dem Job, darum arbeite ich auch seit ich als Schiedsrichter angefangen habe 40 Stunden. Diese Bedingungen haben wir in Österreich.

 

90minuten.at: Wären deshalb nicht Profischiedsrichter besser?

Lechner: Das kann ich nicht beurteilen. Ich bin froh, dass ich einen Vollzeitjob habe. Das ist meine Haupttätigkeit. Es weiß aber jeder Schiedsrichter auch, was auf ihn zukommt. Es wird extrem viel erwartet und man muss es mit Beruf oder Ausbildung sowie der Familie vereinbaren. Das wird wohl eine immer größere Herausforderung.

90minuten.at: Österreich hat seit Jahren auf internationalem Level keinen Topschiedsrichter.

Lechner: Die körperliche Komponente ist sehr entscheidend. Wenn ich am Sonntag um 17 Uhr in Altach pfeife und am Montag um acht Uhr im Büro bin, habe ich kaum Regenerationsmöglichkeiten. Andere Länder stellen beispielsweise einen Masseur. Ob Veränderungen vonseiten des ÖFB geplant sind, kann ich nicht beurteilen. Aktuell muss ich mich ums Training, die Physio und die Vorbereitung selber kümmern. Wir sind keine Profis und jeder weiß, worauf man sich mit der Herausforderung Schiedsrichter einlässt.

 

90minuten.at: Eine Herausforderung ist, dass man 90 Minuten lang pfeift und dann drei Tage drüber diskutiert wird – nachdem es zehn Kamerapositionen gab – ob der Spieler nun on- oder offside war. Sprich: Wie geht man mit Fehlern um?

Lechner: Ich analysiere meine Spiele. Ich muss mir zudem meiner Fehlbarkeit bewusst sein. Es gibt wenige Berufungen, wo ich 90 Minuten lang so stark unter Beobachtung stehe und so schnell Entscheidungen treffen muss. Man wird auch nie der fertige, perfekte Schiedsrichter sein. Den gibt es nicht. Man kann sich immer wieder verbessern. Es wird auch mehr, dass wir uns mit der Taktik und den Gegebenheiten der Mannschaften auseinandersetzen, um mit einer Analyse Verhalten herauslesen zu können, um frühzeitig gegenwirken zu können. Als Schiedsrichter sollte man nicht nur reagieren, sondern auch proaktiv sein. Ein wichtiger Punkt ist es, Sachen zu vermeiden. Nicht immer nur: Foul, gelb. Sondern: Was kann ich tun, um etwaiges zu verhindern. Auch das erachte ich als meine Aufgabe.

 

90minuten.at: Sprich Sie wissen, dass Innenverteidiger X gerne den Ellbogen ausfährt.

Lechner: Oder das Blocken. Ein Spieler stellt sich absichtlich bewusst in eine Abseitsstellung. Da weiß ich oft, dass er einen Gegenspieler blocken will. Das kann ich ihm mitteilen, weil wenn er als Angreifer dann einen Spieler blockt, ist er im Abseits. Das fällt auch in die Schiedsrichterei rein. Man pfeift ja nicht nur 90 Minuten und geht nach Hause. Man will wissen, was man aus den Spielen herauslesen kann, damit die Arbeit als Schiedsrichter erleichtert wird. Umgekehrt darf man nicht voreingenommen sein. Wir wollen uns einfach auch vorbereiten.

 

90minuten.at: Das heißt, Sie schauen auch, wie sich zum Beispiel ein Nestor El Maestro verhalten hat.

Lechner: Mir als Schiedsrichter muss klar sein, dass ein Spieler und Trainer alles versuchen wird, um ein Spiel zu gewinnen. Da ist man ihm auch nicht böse. Meine Aufgabe als Schiedsrichter ist es, dem Regelwerk Geltung zu verschaffen. Manche Situationen haben Interpretationsspielraum, bei anderen gibt es strikte Vorgaben.

90minuten.at: Daraus ergibt sich aber der Umstand, dass eine Aktion in Spiel A anders geahndet wird als in Spiel B.

Lechner: Das ist möglich. Es pfeifen ja unterschiedliche Schiedsrichter und auch ich oder ein Spieler habe unterschiedliche Leistungen oder Tagesverfassungen. Es agiert nie ein Roboter, sondern immer Menschen. Und es gibt Interpretationsspielraum, anders als beim Tennis. Da geht es drum, ob der Ball drinnen ist oder nicht. Das wird sich auch mit dem Videoschiedsrichter nicht ändern.

 

90minuten.at: Der Videoschiedsrichter wird kommen, er wird wohl etwas später als ursprünglich geplant kommen. Wie viele Fehler kann der aus Ihrer Sicht beheben?

Lechner: Es gibt ja vier klare Situationen, in denen er eingreift: Bei jedem Tor und der Entstehung, jeder roten Karte, jeder Strafraumsituation und die Entstehungsphase und ob der falsche Spieler eine Karte bekommen hat. Es kann auch sein, dass ein brutales Foul im Strafraum zu rot und Strafstoß führt, aber wenn davor Abseits war und der Videoschiedsrichter hat es korrigiert, dass es mit Abseits weiter geht, die Rote aber bleibt. Umgekehrt wird die gelb-rote Karte nicht überprüft. Das kann das Spiel schon beeinflussen, außer es wäre statt gelb-rot glatt rot. Entscheidend ist in dem Zusammenhang auch, wie viele Kameras es gibt. International gibt es mehr als in der Bundesliga. Die Reverskamera gab es bis jetzt es nur beim Sonntagsspiel. Das gibt ganz andere Bilder her.

 

90minuten.at: Ist der VAR das Nonplusultra für Fairness?

Lechner: Es geht um die ganz spielentscheidenden Situationen. Eine gelb-rote und eine rote Karte haben für das Spiel vielleicht eine gleiche Bedeutung, erstere wird aber nicht überprüft. Und es kommt auf die Kameras drauf an. Das wird eine Herausforderung. So wie es beim Champions League-Finale war, wird es in der heimischen Bundesliga nicht sein. Klare, offensichtliche Fehler will kein Schiedsrichter begehen. Daran ist keiner interessiert. Da nimmt der VAR schon Last von den Schultern. Unsere Vorbereitungen laufen seit Jänner.

 

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