Eigentlich hätte Philipp Semlic beim Interviewtermin ja über das Duell mit seinem Ex-Verein TSV Hartberg sprechen sollen, doch das fand wetterbedingt nicht statt. Es ist ein gutes Beispiel dafür, dass man sich vorbereiten kann, die Realität sieht dann aber anders aus.
So erging es ihm etwa auch beim SKN St. Pölten - mit großen Ambitionen gestartet, änderten sich die Rahmenbedingungen und er verließ den 2. Liga-Klub. Nun ist er in der Bundesliga angekommen und coacht die WSG Tirol. Das ist der Klub mit dem geringsten Budget, den wenigsten Fans und noch dazu mit vielen Fragezeichen. Noch im Frühjahr wurde in Frage gestellt, ob es sich für den Verein überhaupt auszahlt, in die 2. Liga zu gehen, wenn man absteigt.
Für diesen - aus Semlic' Sicht nicht sehr wahrscheinlichen - Fall ist man aber vorbereitet. Das Interview mit 90minuten zeigt dabei, wie detailliert er diese Aufgabe angeht.
90minuten: Das Spiel gegen den TSV Hartberg ist ja abgesagt worden. Du hast ja eine Skilehrerausbildung, bist du stattdessen auf den Berg gegangen?
Philipp Semlic: Das wäre grundsätzlich möglich und auf das freue ich mich auch schon sehr, wenn einmal Zeit dafür ist. Wir waren aber am Sonntag noch lange in der Steiermark, weil es ja es so ausgeschaut hat, dass wir eventuell am Dienstag spielen hätten können. Das hat sich zerschlagen und wir sind am späteren Nachmittag zurückgefahren und erst in der Nacht angekommen.
90minuten: Wie geht man als Trainer damit um? Corona, Wind und Wetter haben ja nicht das erste Mal zu einer Absage geführt.
Semlic: Wenn Spiele abgesagt werden, ist das ja eine Ausnahmesituation. Ich glaube, dass ein wichtiger Faktor 'leading by example' ist. Wenn ich herumjammere und schlechte Laune verbreite, dann überträgt sich das auf die Mannschaft. Die ist ja in meiner Auffassung ein Spiegelbild von den Trainern und Sportdirektoren, vom Charakter und der Mentalität her. Wir sind in der Vorbereitung immer so damit umgegangen, dass wir spielen würden. Als die Absage gekommen ist, haben wir versucht, das Beste draus zu machen.
Wir wollen den Verein budgetär so aufstellen, dass man auch mehrere Jahre in der 2. Liga performen kann.
90minuten: Apropos Krisen. Es hat zuletzt geheißen, dass es bei einem möglichen Abstieg so ist, dass ein Antreten in der 2. Liga schwierig ist.
Semlic: Das würde ich so nicht sagen. Ich spüre im ganzen Verein gerade eine totale Aufbruchstimmung. Es sind Personen am Werk, die eine größere Vision haben und auch auf dieses Worst-Case-Szenario vorbereitet sind. Wir wollen den Verein budgetär so aufstellen, dass man auch mehrere Jahre in der 2. Liga performen kann und vielleicht nach einem Aufbaujahr wieder attackieren kann und um den Bundesliga-Aufstieg mitspielt.
Da werden die Weichen gerade gestellt und ich spüre eine gute Energie in der gesamten Region, dass man vorbereitet ist, wenn es tatsächlich zum Abstieg kommen sollte – auch wenn das nicht einfach ist. Wir sind da noch am Start des Projektes und es ist noch ein weiter Weg. Aber: Das sind Szenarien, die vielleicht irgendwann eintreten. Jetzt daran zu denken, wäre der falsche Ansatz. Nun geht es um Entwicklung, damit der Verein, die Mannschaft und jeder einzelne Spieler auf das nächste Level kommt.
90minuten: Bei einem Abstieg ist die Regionalliga also vom Tisch?
Semlic: Darüber haben wir bei meiner Unterschrift nicht gesprochen und ich muss ehrlicherweise sagen, dass mir wichtig ist, dass der Verein eine Vision hat, aber auch weiß, wo er steht und mit welchen Mitteln man in der Bundesliga spielt. Da war mir schon wichtig, dass Anspruch und Wirklichkeit zusammen passen. Wir leben hier sicherlich nicht im Überfluss und müssen das Beste herausholen, um in der Bundesliga zu bestehen.
90minuten: Wie schaut diese Idee aus? Vor allem hinsichtlich der budgetären Situation.
Semlic: Ich glaube, von daher sind wir ganz hinten in der Bundesliga. Wir müssen unabhängig davon eine Nische finden und performen. Dafür gibt es drei Säulen: Weiterentwicklung der Mannschaft hin zu einer klaren Fußballphilosophie; also wie wir spielen, auftreten wollen, egal ob es gegen Salzburg, Sturm oder Hartberg geht.
Die zweite Säule ist es, dass das Budget über kurz oder lange erhöht wird; man braucht nicht glauben, dass man in der gegenwärtigen Wirtschaftssituation mehr Sponsoren lukrieren kann, sondern muss sich über Spielerverkäufe definieren, also die Spieler individuell entwickeln, eine Plattform bieten und dann auch in der Spielerakquise solche zu finden, die vielleicht das Potenzial haben, dass sie zu einem größeren Verein oder vielleicht sogar ins Ausland kommen.
Die dritte Säule ist die Regionalität. Wir haben 14 Spieler aus dem Bundesland Tirol im Kader, das ist schon ein Unikum in der Bundesliga, das auch eine Spur mehr Identifikation schafft. Das Land wirkt auf Außenstehende ja sportlich zerrissen, jeder hat seine Ideen. Es gibt die WSG, dann keinen Zweitligisten, eine coole Akademie, natürlich den FC Wacker mit seiner großen Strahlkraft und viele kleine Vereine. Man muss dieses Kirchturmdenken aufbrechen, alte Gedanken vergessen und ein großes Ganzes entstehen lassen. Das ist ein langer Weg.
90minuten: Bleiben wir einmal beim Sportlichen. Wo will sich die WSG Tirol positionieren? Ohne dem kann man ja keine Spieler suchen, die man wiederum zur Verbesserung der zweiten Säule entwickeln kann.
Semlic: Das stimmt. Es geht beides Hand in Hand. Wenn du die Spielphilosophie definiert hast, ergeben sich daraus klare Spielerprofile. Es hilft ja nichts, wenn wir eine Grundformation 4-3-3- spielen und keine Winger suchen. Da muss man sehr genau arbeiten. Es ist aber schwierig, weil dadurch der Markt durch die budgetäre Situation sehr limitiert ist. In der ersten Transferphase ist uns das einmal gut gelungen.
90minuten: Ja, aber wie will man denn spielen? Vereinfacht: Sollen die Kicker dann RB-Fußball können oder eher Ballbesitz?
Semlic: Wir werden bei der WSG Tirol keine ganzheitlichen Spieler bekommen, die kommen nicht zu uns. Deshalb müssen wir schauen, dass wir jene mit Potenzial bekommen. Jene aus der Salzburger Akadmie stehen für Intensität, viele Pressingmomente. Jamie Lawrence haben wir vom FC Bayern München verpflichtet, der steht für Positionsfußball und Ballbesitzphasen. Wir müssen schauen, dass wir Spieler finden, die mit ihrer Art und Weise zur WSG passen und auch wissen, worauf sie sich einlassen und ob man grundsätzlich etwas leisten will.
Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass jede individuelle Qualität unterbunden werden kann, wenn man ein starkes Kollektiv hat.
90minuten: Wie weit ist man auf dem Weg? Die Meistergruppe wird sich mit der bisher gezeigten Performance bzw. der Punkteausbeute schwierig ausgehen.
Semlic: Natürlich hätte ich gerne zwei Punkte mehr, aber wenn du als WSG Tirol nach fünf Spielen mit vier Punkten dastehst, wirkt das auf Außenstehende normal. Wir haben auch gegen Rapid und Sturm unser Spiel auf den Platz gebracht, es dann aber nicht geschafft, aus diesen guten Phasen etwas Zählbares mitzunehmen. Gegen diese Topteams müssen wir noch kaltschnäuziger werden, eine Spur klarer in unseren Abläufen und das alles dann in Punkte ummünzen. Wir sind jedoch in einem Prozess und ich bin zufrieden, aber in einem halben Jahr können wir es uns nicht mehr erlauben, aus solchen Spielen keine Punkte mitzunehmen.
90minuten: Ein Kader muss nicht schlechter sein, nur wenn er weniger kostet – was hat bisher den Unterschied ausgemacht?
Semlic: Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass jede individuelle Qualität unterbunden werden kann, wenn man ein starkes Kollektiv hat. Aber wir stehen erst am Anfang, also wir haben jetzt die 14. Trainingswoche mit der Mannschaft und werden von Woche zu Woche sicherer werden und die Abläufe werden besser.
90minuten: Von welchem Spieler können wir dann in einem halben Jahr sagen: Ah, das wusste ich schon im September, dass der durchstartet?
Semlic: Also ich habe jetzt keine Glaskugel, wo ich hineinschauen kann und sehe, was in Zukunft sein wird. Quincy Butler oder Jamie Lawrence sind noch nicht ganz auf dem athletischen Niveau, aber haben schon aufgezeigt. Valentino Müller und Matthäus Taferner spielen schon auf einem hohen Niveau. Aber ich möchte eigentlich keinen Spieler herausheben und sagen, dass er der Rising Star ist. Ich bin mit allen Spielern grundsätzlich zufrieden. Jetzt geht es ans Arbeiten. Pep Guardiola sagt ja auch, dass die Meisterschaft nach der Transferphase erst richtig losgeht.
90minuten: Gehen wir ein paar Schritte zurück. Aufstieg in die Regionalliga mit dem TSV Hartberg, Nachwuchs bei Sturm, Lafnitz als kompletten Underdog in der 2. Liga gehalten und dann das schief gelaufene Engagement beim SKN – es gab schon Trainer, die keine zweite Chance im Profifußball bekamen. Hattest du Angst, dass es das war mit Semlic im Profibereich?
Semlic: Nein, weil ich das Risiko schon kannte und Profifußball ist keine Wohlfühloase. Ich hätte statt zum SKN auch gleich in die Bundesliga gehen können, habe aber viel Potenzial in St. Pölten gesehen. Zu Beginn war es auch richtig cool, dann ist halt der Cut gekommen, den keiner kommen sah. Wolfsburg ist ausgestiegen, der Verein war führungslos. Ich habe meine Schlüsse gezogen und meine Entscheidung getroffen und das Engagement beendet.
90minuten: Unabhängig davon, worauf achten die Vereine aktuell im Hearing?
Semlic: Also ich kann es jetzt nur von mir sagen, bei den Gesprächen, die ich mit Vereinen oder Vereinsfunktionären geführt habe, ist es immer um den Inhalt gegangen: Wie möchtest du Fußball spielen? Für welche Art von Menschenführung stehst du? Und es ist eigentlich um wenig mehr gegangen.
90minuten: Ich habe in letzter Zeit öfters mit Sportdirektoren darüber gesprochen, was sie bei Trainern suchen. Wie läuft dieser Auswahlprozess ab? Warst du auch mit dem Sportchef der WSG auf einer Berghütte?
Semlic: Also im Findungsprozess waren wir nicht auf einer Berghütte. Wir haben uns aber schon mehrfach getroffen und sind dann immer mehr in die Tiefe gegangen und am Ende war es dann so, dass ich gemeint habe, ich muss ein Gefühl dafür entwickeln. Ich bin ein sehr überlegter Mensch und es muss am Ende des Tages ja passen. Die WSG und die handelnden Personen sind sehr wertschätzend, es ist ein familiärer Verein, wo alle an einem Strang ziehen. Ich muss aber wissen, ob es für mich als Trainer funktioniert und ob der Verein mich auch als Cheftrainer installieren will.
90minuten: Es gibt ja auch die persönliche Komponente. Wie sehr steht da auch das Private im Fokus?
Semlic: Natürlich ist bei jeder beruflichen Entscheidung meine Frau meine erste Ansprechperson, bzw. meine Familie. Wenn die nicht überzeugt ist und es ein schlechtes Gefühl gibt, würde ich das nicht machen. Wir sind als Familie sehr in Graz verwurzelt und mussten komplett umziehen. Der Verein hat sich sehr bemüht, wir haben eine Wohnung bekommen und einen Kindergartenplatz für meine Tochter.
90minuten: Auch die Kaderspieler haben ein Privatleben.
Semlic: Es ist für die Vereine wichtig, dass sich die Spieler schnell akklimatisieren können. Man muss im Profifußball sofort Leistung bringen können, es gibt nicht viel Zeit. Chelsea hat 45 Spieler im Kader und fünf Personen, die als Welfare-Manager nur dafür da sind, sich um das Wohlergehen der Spieler zu kümmern. Unsere Teammanagerin Helene Bischof ist alleine, aber dabei überragend. Sie zerreißt sich. Aber auch der Sportdirektor, Wirtschaftsvorstand und die Präsidentin haben immer ein offenes Ohr. Diana Langes ist ein herzensguter Mensch und hilft bei Problemen und Problemchen. Hier gibt es zwar nichts im Überfluss, aber die Personen befüllen das alles mit Leben und das war auch mit ein Grund, warum es so gut passt.
Einem Spieler muss man das gut erklären, sonst rennt er hier herum und denkt sich: Wo bin ich da gelandet? Rechts und links ein Berg und jetzt im September liegt schon überall Schnee.
90minuten: Wattens ist nicht gerade Hollywood, Berlin oder Wien. Da musst du wohl auch mit den Spielern reden und sagen: Schau, du bist jetzt 23 und kannst schon auf ein Bier gehen, aber bei uns gibt es eine Disco und am nächsten Tag weiß es jeder.
Semlic: Der erste Satz, den ich allen gesagt habe, ist: Du musst wissen, worauf du dich einlässt. Wir haben die Spieler ausgewählt, weil wir von ihrer Qualität, aber auch vom Charakter überzeugt waren. Und dann haben wir natürlich gesagt, was es heißt, nach Tirol zu ziehen, wenn man aus Berlin oder Genua herkommt. Mit Butler von Hoffenheim haben wir Calls gemacht, weil er bei seiner Familie in Sacramento war. So einem Spieler muss man das gut erklären, sonst rennt er hier herum und denkt sich: Wo bin ich da gelandet? Rechts und links ein Berg und jetzt im September liegt schon überall Schnee. Da müssen sie sich schon mit uns identifizieren können.
90minuten: Vielleicht kommt ja der eine oder andere auch gerade wegen des Schnees auf den Bergen.
Semlic: (lacht) Während der Meisterschaft dürfen sie aus vertraglichen Gründen nicht Skifahren. Was sie in der freien Zeit machen, ist ihre Sache. Matthäus (Anm.: Taferner) ist begeisterter Skitourengeher.
90minuten: Summa summarum: Die WSG macht sich viele Gedanken, das Richtige zu tun, auch in Bereichen, wo vielleicht andere Vereine nicht so gut hinschauen – Ist das der Ansatz, der die Wattener die Liga halten lässt? Weil alle lesen Leistungsdaten, Taktik und Co.
Semlic: Das und auch eine gewisse Geduld und Bodenständigkeit, nicht im Affekt zu handeln. Ich denke, dass die WSG beides hat, das sieht man ja auch an dem Umstand, dass Thomas Silberberger hier elf Jahre Trainer war, auch wenn es zwischendurch schwieriger war. Das unterscheidet den Klub von anderen in der Bundesliga.
90minuten: Was ist, was ist das Minimalziel, was ist das maximal mögliche in dieser Saison?
Semlic: Wir haben das Vereinsziel, in der Liga zu bleiben, sind aber so ehrgeizig, dass wir nach dem Maximum streben. Es gibt ja auch andere Vereine, die es geschafft haben, mit wenig Budget eine konstant gute Rolle und nicht jedes Jahr gegen den Abstieg zu spielen. Wir wollen uns also dahin entwickeln, dass wir von dem Minimalziel wegkommen.
90minuten: Immerhin ist es gut zu hören, dass es bei einem Abstieg nicht vorbei wäre.
Semlic: Genau, es braucht gesunde Beine, damit man von extremen Rückschlägen nicht komplett aus der Bahn geworfen wird und nicht komplett von der Bildfläche verschwindet. Jetzt geht es aber darum, im Hier und Jetzt zu leben und unsere Arbeit zu machen.
90minuten: Danke für das Gespräch!