Im Februar 2024 wäre Stephan Helm fast beim Hamburger SV gelandet. Doch dann meldete sich der FK Austria Wien und konnte ihn als Cheftrainer der Young Violets gewinnen.
Im Sommer ist der 41-Jährige zum Coach der violetten Profis aufgestiegen und hat zuletzt eine sensationelle Siegesserie hingelegt.
Im großen 90minuten-Interview spricht der Burgenländer über den gar nicht so einfachen Sommer, Feedback von außen und den Beziehungsaufbau zu seinen Spielern.
90minuten: Wann haben Sie zum letzten Mal Genugtuung verspürt?
Stephan Helm: Nach dem Sieg gegen Hartberg, gegen das wir im ersten Spiel echte Probleme hatten, habe ich mich sehr gefreut, dass unser Plan aufgegangen ist. Das kann ich dann für einen Moment genießen. Aber Genugtuung ist so ein negativ behaftetes Wort, so ticke ich überhaupt nicht.
90minuten: Gelingt es Ihnen, sich in diesem stressigen Tagesgeschäft auch mal rauszunehmen und zu reflektieren, was da in den vergangenen Wochen und Monaten passiert ist?
Helm: So richtig zur Ruhe werde ich in der Winterpause kommen. Ich habe aber täglich Phasen, in denen ich mir bewusst Gedanken mache. Das passiert meistens bei der Heimfahrt, ich sitze ja eine Stunde im Auto, wenn ich ins Burgenland fahre. Außerdem habe ich eine sehr verständnisvolle Frau, mit der ich die Abende genießen kann.
Für mich geht es immer darum, meine Lebenszeit sinnvoll zu investieren. Ich tue das nicht für irgendeine Außensicht.
90minuten: Gehen wir zurück an den Anfang des Jahres. Sie hatten ein Angebot vom HSV, sollten dort die U19 übernehmen, dann kam die Austria mit den Young Violets.
Helm: Es gab auch noch ein, zwei andere, sehr interessante Sachen. Ich habe damals bei den Grasshoppers schon einmal eine 2. Mannschaft trainiert, was mir extrem viel Spaß gemacht hat. Die Sache mit der Austria hat sich kurzfristig ergeben, das hat mir perfekt reingepasst, ich musste nicht lange überlegen.
90minuten: Ein Jahr zuvor sollten Sie mit Emanuel Pogatetz gemeinsam die Austria-Profis übernehmen.
Helm: Ja, das war ein Thema. Wir waren zu dem Zeitpunkt Tabellenführer mit St. Pölten. St. Pöltens Sportchef Jan Schlaudraff hat recht zeitnah gesagt, dass er diesen Wechsel nicht zulassen wird. Das war zu diesem Zeitpunkt okay.
90minuten: Denkt man sich da ein Jahr später nicht: Vor einem Jahr hätte ich Profi-Trainer werden sollen, jetzt bietet ihr mit die Amateure an?! Oder ist das Geschäft für solche Gedanken einfach viel zu schnelllebig?
Helm: Für mich geht es immer darum, meine Lebenszeit sinnvoll zu investieren. Wenn ich mit einer Mannschaft in einem professionellen Umfeld arbeiten kann, ist das möglich. Ich tue das nicht für irgendeine Außensicht.
90minuten: Wie ist Ihre Beziehung zu Emanuel Pogatetz heute?
Helm: Wir sind dicke Freunde! Wenn er in Österreich ist, geht es sich eigentlich immer aus, dass wir uns sehen.
90minuten: Während Ihrer gemeinsamen Zeit in St. Pölten haben Sie beide gesagt, es gäbe Sie nur im Doppelpack. Pogatetz war ja Ihr Vorgänger bei den Young Violets. Wie war das, als er alleine den Weg gegangen ist?
Helm: Wir waren zwei Jahre und vier Monate in St. Pölten, davor ein Jahr gemeinsam beim LASK. Wir haben tausendmal über alle Szenarien, was wir gemeinsam machen könnten, welche Wege es geben würde, besprochen. Zu dem Zeitpunkt hat das super für ihn gepasst.
Ilves Tampere waren keine Eishockeyspieler, wie das manche Leute behaupten. Ich habe das Feedback gegenüber der Mannschaft als unfair empfunden.
90minuten: Sie waren ein halbes Jahr bei den Young Violets, dann ist Michael Wimmer bei den Profis vor die Tür gesetzt worden. Sie wurden aber nicht Interimstrainer, sondern Christian Wegleitner.
Helm: Das ging alles sehr schnell, ich habe mich damals nicht damit beschäftigt. Wenn ich für einen Job zusage, mache ich den zu 100 Prozent. Es war die richtige Entscheidung, das den "Wegi" machen zu lassen.
90minuten: Wann haben Sie zum ersten Mal mitbekommen, dass Sie als Cheftrainer ein Thema sind?
Helm: Es war relativ schnell klar, dass ich recht viel vom gesuchten Profil abdecke. Gleichzeitig wurde kommuniziert, wenn der perfekte Kandidat gefunden wird, dass er eingesetzt wird. Umso länger es gedauter hat, umso mehr habe ich mir gedacht, dass ich interessant werde, wenn der ideale Kandidat nicht da ist. Ich war aber relativ entspannt. Ich habe mir angewöhnt, in solchen Phasen möglichst wenig Medien zu konsumieren.
90minuten: Haben Sie einen Manager?
Helm: Nein. Ich bin 2018 als Videoanalyst zur Austria gekommen, Thorsten Fink hat mich dann in die Schweiz zu den Grasshoppers mitgenommen, dann hat mich der LASK kontaktiert, dann St. Pölten. Danach haben sich die Kontakte mit dem HSV und der Austria auch ergeben, ohne dass ich aktiv werden musste. Es gab also nie eine Notwendigkeit.
90minuten: Wir alle wissen, wie Ihr Start in die Zeit als Cheftrainer der Austria mit dem Europacup-Aus gegen Tampere verlaufen ist. Ein paar Tage nach dem Rückspiel gab es eine Grillfeier der violetten Fanszene, zu der Sie eingeladen waren. Mit welchen Erwartungen sind Sie dorthin?
Helm: Ich habe immer einen positiven Zugang, also hatte ich das Vertrauen, dass uns die Fans dort die Chance geben, das zu besprechen. Das war ein total positives Erlebnis. Die Fans haben ein Gespür dafür, dass es eine Sache ist, sich nach einem schlechten Spiel aufzuregen, aber eine andere Sache, sich mit den Personen auseinanderzusetzen. Ich muss auch noch etwas anderes sagen.
90minuten: Was denn?
Helm: Es wird immer gesagt, der Start war so schwierig. Ilves Tampere waren aber keine Eishockeyspieler, wie das manche Leute, die sehr weit von der Materie weg sind, behaupten. Die standen mitten in der Meisterschaft, haben in der Liga fast jedes Spiel gewonnen. Ich fand das respektlos, Österreich ist nicht der Nabel der Fußballwelt. Wir haben auswärts knapp verloren, haben Saalfelden im Cup 6:0 geschlagen, das Rückspiel gegen Tampere, in dem wir nicht gut waren, haben wir unglücklich zwei Mal aus der Hand gegeben und sind dann im Elferschießen ausgeschieden. Dann haben wir ein sehr ordentliches Spiel bei Blau-Weiß Linz 0:1 verloren, uns wurde ein reguläres Tor aberkannt. Ich habe das Feedback gegenüber der Mannschaft als unfair empfunden.
90minuten: Gegenüber Ihnen selbst auch?
Helm: Ja, sicher. Das war nicht fair. Aber das macht nichts mit mir. Aber, ich hätte mein letztes Hemd dafür gegeben, dass wir es in die Gruppenphase schaffen. Es ist super unangenehm, wenn man sich dem sportlichen Wettkampf stellt und verliert.
90minuten: Was ist dann unangenehm? Sich einem Interview zu stellen? Sich vor die Fans zu stellen? Sich vor die Mannschaft zu stellen?
Helm: Nein, das gehört alles dazu. Der eigene Frust, der eigene Ärger, nur ich selbst, nichts von außen. Der Antrieb ist in mir selbst drinnen.
Soziale Medien gibt es für mich nicht, das sind asoziale Medien. Das nimmt eine schreckliche Entwicklung.
90minuten: Würden Sie in der Kommunikation etwas anders machen?
Helm: (lacht) Ich würde nicht mehr das böse Wort sagen.
90minuten: Ich sag’s: Doppelbelastung.
Helm: Die Frage war, ob es in einer Trainingswoche etwas ändert. Ich habe die Begrifflichkeit falsch verwendet. Ich hätte sagen müssen, dass man in einer Doppelrunde weniger Trainings hat, um sich gezielt auf den Gegner vorzubereiten. Ich habe aber Doppelbelastung gesagt. Ich wollte die Leute eigentlich im Detail daran teilhaben lassen, was in so einer Woche passiert.
90minuten: Hat Sie die Heftigkeit, mit der das kritisiert wurde, überrascht? Gefühlt gab es zwei, drei Tage lang im Zusammenhang mit der Austria kein anderes Thema als Ihren Doppelbelastung-Sager.
Helm: Nein, gar nicht, null. Ich habe diese Erfahrung bei den Grasshoppers und beim LASK schon gemacht. Ich war ja auch schon einmal bei der Austria, habe mitbekommen, wie es damals war, als Thorsten Fink gehen musste. Ich war darauf vorbereitet.
90minuten: Wie halten Sie diese Kommentare von sich fern? Es ist ja nicht möglich, sich komplett abzukapseln.
Helm: Ich bekomme weniger mit, als man glaubt. Soziale Medien gibt es für mich nicht, das sind asoziale Medien. Das nimmt eine schreckliche Entwicklung. Ich kann auch nicht verstehen, dass seriöse Medien teilweise auf solche Kommentare Bezug nehmen. Ich nehme sehr ernst, was die Leute, die mit mir zusammenarbeiten, denken und kritisieren. Ich muss mich mit den Dingen beschäftigen, die ich beeinflussen kann, da fließt meine ganze Energie rein. Wenn ich mich mit etwas anderem beschäftige, ist das eine Themenverfehlung, dann habe ich meinen Job nicht verstanden.
90minuten: Wenn man mit Leuten spricht, die mit Ihnen zusammengearbeitet haben, sagt jeder über Sie, sie seien ein sehr netter Kerl.
Helm: (lacht) Das ist eine Beleidigung! Mir sind Umgangsformen sehr wichtig. Wenn das schon reicht, um als netter Kerl hervorgehoben zu werden, sehe ich das positiv. Ich nehme es als überflüssig wahr, dass sich Leute aus Angst vor Autoritätsverlust nicht so benehmen, wie ich das daheim gelernt habe. Man darf das aber nicht verwechseln: Ich muss in meinem Job konsequent sein, für Klarheit sorgen und Entscheidungen treffen. Das tue ich mit jeglicher notwendiger Vehemenz, aber wertschätzend.
90minuten: Wann sind Sie nicht nett?
Helm: Ich habe es lieber, wenn es in Harmonie geht. Wenn das nicht möglich ist, darf man sich nicht wegdrehen und sich verstecken, dann bin ich als Trainer gefragt.
90minuten: Ist die Austria schwierig?
Helm: Sie ist so schwierig, wie es ein so großer Verein ist. Es interessieren sich sehr viele Leute dafür, man sieht die Power, die das freisetzen kann.
Jedem Menschen, der vernünftig darüber nachdenkt, ist bewusst, dass da irgendwas nicht stimmt.
90minuten: Sie sprechen oft von einem Prozess, wenn es um die Entwicklung der Mannschaft geht. Setzen Sie sich da Meilensteine, die bis Woche x oder y erreicht werden sollen?
Helm: Konkret an Wochen ist es nicht festgemacht. Ich hole die Mannschaft an einem gewissen Punkt ab. Den Prozess, die Spieler kennenzulernen, Vertrauen aufzubauen, kannst du nicht überspringen. Zu Beginn muss die Beziehungsebene aufgebaut werden, um konstruktiv Kritik anbringen zu können. Dieses fiktive Bild, wohin zu kommen, und nach der Vorbereitung funktioniert alles, ist unrealistisch. Erst dann lässt man in die einzelnen Spielphasen eigene Ideen einfließen. Es ist ein Irrglaube, dass das binnen eines halben Jahres geht. Es gibt Beispiele im Top-Fußball, wo Trainer sieben Jahre bei einem Verein sind. Ich muss mir diese Gelegenheit erarbeiten, deshalb muss ich parallel zu dieser Entwicklung Ergebnisse bringen. Stand jetzt ist die Struktur erkennbar.
90minuten: Fakt ist, dass es in der aktuellen Bundesliga drei Trainer gibt, die dienstälter sind als Sie.
Helm: Was!?! Das gibt’s nicht.
90minuten: Robert Klauß, Peter Pacult, Gerald Scheiblehner. Der Rest hat im Sommer oder danach begonnen.
Helm: Das sagt alles aus. Jedem Menschen, der vernünftig darüber nachdenkt, ist bewusst, dass da irgendwas nicht stimmt.
90minuten: Man muss verrückt sein, so einen Job zu machen.
Helm: (lacht) Ich gehe immer mit der Überzeugung rein, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die erkennen, dass es so nicht optimal ist. Meistens treffe ich auf solche Leute. Dieses Gefühl hatte ich auch, als es zu Beginn angeblich so schwierig war.
90minuten: Sie haben über den Aufbau einer Beziehungsebene mit Spielern gesprochen. Wissen Sie, wie viele verschiedene Spieler Sie im Jahr 2024 in Pflichtspielen eingesetzt haben? Also bei den Young Violets und der Austria.
Helm: (denkt nach) Ich würde mal schätzen, knappe 40 Spieler.
90minuten: Es waren 51 Spieler.
Helm: Bist du narrisch. Das ist ein NFL-Kader.
90minuten: Ist es wirklich möglich, zu all diesen Spielern eine Beziehung aufzubauen, zu wissen, wie sie ticken, welche Ansprache sie brauchen? Im Schnitt ist das ein Mensch pro Woche. Und da ist kein Urlaub dabei.
Helm: Nein, ist es nicht. Deshalb ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist – das war bei den Young Violets nicht abgeschlossen, und ist es aktuell noch nicht. Man muss zu Beginn extrem viel Energie investieren, damit diese Basis überhaupt geschaffen ist. Meine Frau ist im Headhunting tätig. Es ist so schwierig, jemanden aus einem Betrieb weg und in einen neuen Betrieb zu bringen. Das bedeutet für die betroffenen Menschen extremen Stress. Und wir im Fußball tun so, als ob man das alles überspringen könnte. Das braucht Zeit.
Ich erkenne viele Parallelen zwischen Emanuel Pogatetz und Aleks Dragovic.
90minuten: Wie gehen Sie das an? Haben Sie Karteien, wo sie auch private Dinge, etwa ob die Frau gerade schwanger ist, über die Spieler mitschreiben?
Helm: Ich versuche, allgemein offen zu sein, hinzuhören. Ich führe aber keine Liste. Bevor wir in die Winterpause gehen, werde ich mit jedem einzelnen Spieler rund 15 Minuten lang ein Feedback-Gespräch führen.
90minuten: Mit Ihren Führungsspielern sprechen Sie aber regelmäßig?
Helm: Mit dem Mannschaftsrat tausche ich mich rund alle drei Wochen aus. So eine Art jour fixe. Sonst tauschen wir uns zwischendurch mal aus. Viele Spieler wollen gar nicht unbedingt so viel mit dem Trainer reden.
90minuten: Was haben Sie in den letzten Monaten von einem Spieler wie Aleks Dragovic gelernt?
Helm: Ich erkenne viele Parallelen zwischen Emanuel Pogatetz und ihm. Ich sehe Muster, da denke ich mir: So ticken extrem erfolgreiche Menschen. Was ist das? Sie haben extrem hohe Ansprüche an sich selbst, Eigenstandards auf allerhöchstem Level, extreme Professionalität. Und diese sehr erfolgreichen Sportler haben oft am wenigsten Allüren. Sie tun alles für den Erfolg, mit solchen Leuten kann man gut zusammenarbeiten.
90minuten: Der Fußball ist unberechenbar, aber wagen Sie trotzdem einen Ausblick: Was passiert 2025?
Helm: Wenn es nach mir geht, machen wir die nächsten Steps in unserer Entwicklung als Mannschaft. Ich würde mir wünschen, dass wir als Verein die richtigen Schritte machen. Ich glaube daran, dass wir noch so viel Potenzial haben. Meine Wunschvorstellung ist, dass wir alle den Weg, den wir gehen, klar sehen. Wenn wir alle in dieselbe Richtung marschieren, ist bei der Austria extrem viel möglich.