Sahin-Radlinger: "Das ÖFB-Team ist immer noch mein großer Traum"
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Sahin-Radlinger: "Das ÖFB-Team ist immer noch mein großer Traum"

Dem Austrianer fehlt zwar die klassische Tormann-Ausbildung, dennoch schaffte er es mit 18 Jahren ins Ausland. In Wien ist er nun endlich angekommen.

Mit 15 wurde er zum Tormann umfunktioniert, mit 18 unterschrieb er bei Hannover 96 in der deutschen Bundesliga.

Seither hat Samuel Sahin-Radlinger einige Stationen hinter sich gebracht.

Im Interview mit 90minuten spricht der 32-Jährige über seinen Werdegang, die Welt seiner Frau und die Chancen des FK Austria Wien auf einen Titel.

90minuten: 80 Prozent der Torschüsse abgewehrt, die wenigsten Gegentore kassiert – in beiden Statistiken bist du die Nummer 1 der Liga. Beschäftigst du dich mit solchen Zahlen?

Samuel Sahin-Radlinger: Unser Tormanntrainer Udo Siebenhandl arbeitet viel mit Daten, das hat er mir aber nicht gesagt. (lacht)

90minuten: Wie bist du mit deinem persönlichen Herbst zufrieden?

Sahin-Radlinger: Es war eine Steigerung zu sehen. Ich habe fast ein Jahr nicht regelmäßig gespielt, das hat man am Anfang sicher ein bisschen gemerkt. Die Leistungskurve ist stetig nach oben gegangen. Du brauchst ein bisschen, um deine Mitspieler kennenzulernen. Man darf auch das Rundherum nicht vergessen: Übersiedlung mit der Familie, Schule und Kindergarten suchen... Es war viel auf einmal zu verarbeiten.

Zu wissen, dass man zwei Mal so knapp davor war, ist bitter.

90minuten: Ist es aktuell der beste Samuel Sahin-Radlinger seiner Karriere?

Sahin-Radlinger: Ich hatte auch davor schon sehr gute Zeiten – in Ried war ich kurz vorm Sprung ins Nationalteam, war auf Abruf dabei, in England hatte ich in der Championship gute Phasen, war auch kurz vor einer Einberufung ins Nationalteam. Ob es aktuell meine beste Form ist, kann ich nicht sagen, aber es fühlt sich richtig gut an.

90minuten: Wurmt es dich, dass es mit dem Nationalteam nie geklappt hat?

Sahin-Radlinger: Das ist ein großer Traum von mir, immer noch. Zu wissen, dass man zwei Mal so knapp davor war, ist bitter. Ich bin bei der Austria, einem Riesenverein in Österreich, vielleicht werde ich wieder ein Thema, wenn ich hier über einen längeren Zeitraum meine Leistung bringe.

Sahin-Radlinger wurde erst mit 15 Jahren zum Tormann umfunktioniert
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Sahin-Radlinger wurde erst mit 15 Jahren zum Tormann umfunktioniert

90minuten: Mit 32 Jahren hast du ja noch ein paar Jahre vor dir.

Sahin-Radlinger: Ich sehe hin und wieder Videos von mir und denke: "Das schaut eigentlich aus, als würde da ein junger Hupfer drinnenstehen, der bewegt sich ganz gut." (grinst) Das Alter ist bei einem Tormann nicht so wichtig.

90minuten: Du hast verhältnismäßig wenige Jahre als Tormann hinter dir, bist ja erst mit 15 Jahren vom Feldspieler zum Goalie geworden.

Sahin-Radlinger: (lacht) Eigentlich bin ich ja erst 17.

90minuten: Hast du irgendwann gemerkt, dass dir diese klassische Grundausbildung fehlt?

Sahin-Radlinger: Das merke ich heute noch. Gewisse Techniken und Abwehrverhalten, die man früher lernt, habe ich nicht. Das ist aber nicht schlimm und das kriegst du auch nicht mehr raus aus mir. Wie du einen Ball zur Seite abwehrst, oder die Variation, mit welchem Knie du zuerst runter gehst, wenn der Ball gerade auf dich zukommt – bei mir ist es immer dasselbe.

Ich habe mich mit Puls 180 aufgewärmt, aber nach zwei Minuten wieder hingesetzt, weil er eh weiterspielen konnte.

90minuten: Du hast eine Ausbildung bei einer Versicherung gemacht.

Sahin-Radlinger: Ich habe nach der Schule diese Lehre begonnen, nach dem ersten Lehrjahr ist Hannover 96 auf mich zugekommen. Das war surreal – es war mein erstes Jahr im Erwachsenenfußball bei St. Florian, dann kommt auf einmal ein Europacup-Teilnehmer daher! Mir war klar, dass ich das unbedingt machen will. Der Chef der Firma war damals Sponsor bei der SV Ried, ich treffe ihn heute noch öfter, er hat mir schon angeboten, dass ich zurückkommen kann, wenn ich nicht mehr kicke.

90minuten: Würdest du diesen Wechsel nach Hannover wieder machen?

Sahin-Radlinger: Absolut! Auch wenn Hannover vielleicht die Zeit war, in der ich sportlich am wenigsten erreicht habe. Aber ich habe so viel erlebt! Ich war sofort Nummer zwei, bin in jedem Stadion der deutschen Bundesliga auf der Bank gesessen, wir haben es in der Europa League bis ins Viertelfinale geschafft. Sevilla, Kopenhagen, Brügge, Atletico Madrid – ich durfte für Hannover legendäre Spiele hautnah miterleben. Ich stand neun Jahre bei Hannover unter Vertrag, in meinem letzten Jahr durfte ich mein Bundesliga-Debüt geben, dieser Tag bleibt mir für immer in Erinnerung.

90minuten: Du warst 24 Jahre alt, als du an Brann Bergen verliehen wurdest, dort warst du zum ersten Mal Einsertormann im Profi-Fußball. Sechs Jahre, nachdem du nach Hannover gegangen bist.

Sahin-Radlinger: In Hannover war Ron-Robert Zieler vor mir, den als 18-Jähriger rauszuspielen, war schwer. Als Tormann brauchst du das Glück, dass du irgendwann reinkommst. Zieler war ein Vollprofi, der wurde nie ausgeschlossen, war nie krank, nie angeschlagen, nix. Bis auf ein Spiel, in meiner ersten Saison daheim gegen Stuttgart, da hat er sich am Feld mal hingelegt. Ich habe mich mit Puls 180 aufgewärmt, aber nach zwei Minuten wieder hingesetzt, weil er eh weiterspielen konnte. Sie waren immer extrem happy mit mir, aber zur Nummer 1 hat es nie gereicht, deshalb die Leihen.

Charakterlich starke Truppe: "Es sind richtig geile Charaktere und es gibt keine Egos"
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90minuten: Verzweifelt man da nicht irgendwann mal?

Sahin-Radlinger: Du kommst von Ried in die deutsche Bundesliga. Das war ein Highlight für mich, dass ich überhaupt dort auf der Bank sitzen darf. Vielleicht war der Anspruch an mich selbst noch nicht so hoch.

90minuten: 2020 bist du nach Ried zurückgekehrt. Ist da für euch als Familie das Gefühl gewachsen, dass ihr jetzt dann mal sesshaft werden wollt?

Sahin-Radlinger: Wir haben diese drei Jahre in Ried richtig genossen. Ich war davor neuneinhalb Jahre unterwegs. Es war richtig schön, als Familie wieder enger beieinander zu sein. Meine Frau ist in Berlin geboren und aufgewachsen, das ist etwas anderes als Ried. Sie hatte dann irgendwann Heimweh, was ich gut verstanden habe. Mit Wien haben wir jetzt den perfekten Kompromiss gefunden. Wir sind in einer der lebenswertesten Städte, es geht schnell nach Berlin und nach Ried. Wir sind an einem Punkt, an dem wir uns richtig wohlfühlen.

90minuten: Aufgrund des Berufs deiner Frau (Anm.: Sila Sahin-Radlinger ist Schauspielerin) ist ja bestens dokumentiert, wie es euch als Familie geht. Wenn man deinen Namen googelt landet man schnell bei bunte.de, promiflash und ähnlichen Portalen. Nervt dich das manchmal?

Sahin-Radlinger: Das ist ihre Welt, das wäre gar nichts für mich. Mir reicht es, wenn ich im Stadion vor Tausenden Fans spiele und danach vor einer Kamera Rede und Antwort stehe. Ich bin nicht der Typ für Extra-Aufmerksamkeit. Sie aber liebt das, fühlt sich damit extrem wohl, liebt ihren Beruf. Wir haben beide Verständnis füreinander. Roter Teppich, Blitzlicht-Gewitter – das überlasse ich ihr. Ich konzentriere mich auf den grünen Teppich.

Ich habe noch nie einen größeren Titel gewonnen, ich habe extremes Feuer in mir.

90minuten: Und da ist es im Herbst ja gut gelaufen. Wie würdest du das Halbjahr der Austria auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten?

Sahin-Radlinger: Das war schon brutal gut, ich würde 9 sagen.

90minuten: Es ist also noch Luft nach oben?

Sahin-Radlinger: Ja, ich glaube, dass wir in gewissen Spielen noch dominanter sein hätten können, weniger Großchancen des Gegners zulassen hätten können. Über Punkte brauchen wir aber nicht zu sprechen, da haben wir das Maximum herausgeholt.

90minuten: Hast du in deiner Karriere schon eine derartige Siegesserie erlebt?

Sahin-Radlinger: Mit Brann Bergen habe ich 2018 sieben Spiele in Folge gewonnen. Wir waren die ersten 14 Runden ungeschlagen. Dann ist ein gewisser Erling Haaland mit Molde gekommen und hat die Serie im Alleingang mit vier Toren in den ersten 21 Minuten beendet.

Die Austria bereitet sich als Tabellenzweiter aufs Frühjahr vor
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Die Austria bereitet sich als Tabellenzweiter aufs Frühjahr vor

90minuten: Der Ausgang des Herbstes ist erstaunlich, wenn man den Saisonstart bedenkt.

Sahin-Radlinger: So extrem war der Start auch wieder nicht, ich war schon in viel schlimmeren Krisen. Man muss das ein bisschen differenzieren. Wir haben versucht, das innerhalb des Teams ruhig und gelassen aufzuarbeiten, haben uns nicht verrückt machen lassen.

90minuten: Ist es legitim, zu fragen, ob die Austria Meister werden kann?

Sahin-Radlinger: Wenn es so weiter geht, werden wir die Frage wohl öfter hören. Wir tun gut daran, bescheiden zu bleiben. Ich habe noch nie einen größeren Titel gewonnen, ich habe extremes Feuer in mir. Jetzt über den Meistertitel zu reden, wäre aber vermessen.

90minuten: Euch wird nachgesagt, dass ihr eine sehr verschworene Einheit seid. Du hast in deiner Karriere schon in vielen Mannschaften gespielt. Ist diese Mannschaft wirklich etwas Besonderes?

Sahin-Radlinger: Ich hatte bisher erst in einer anderen Mannschaft so ein Gefühl wie jetzt hier – in Hannover, als wir aufgestiegen sind. Es gibt in jeder Mannschaft Gruppen, das lässt sich nicht vermeiden. Wichtig ist aber, dass die Gruppen gut miteinander können, sich mögen, schätzen und respektieren. Das ist absolut der Fall. Es sind richtig geile Charaktere und es gibt keine Egos.

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