Die ersten zehn Spieltage nach dem Bundesliga-Aufstieg hat David Nemeth beim FC St. Pauli von der Bank verfolgt. Eine weitere schwierige Phase für den 24-jährigen Innenverteidiger, der über die letzten Jahre gesundheitliche Rückschläge hinnehmen musste und deswegen selten regelmäßig zum Spielen kam.
Mitten in der Saison gelang dann aber plötzlich doch der Aufstieg zum Stammspieler - eine Rolle, die Nemeth behalten will. Über die nächsten Wochen liegt der Fokus auf dem Abstiegskampf, der Weg könnte bald auch ins Nationalteam führen.
Hinweis: Das Interview wurde vor dem Bundesliga-Spiel gegen Holstein Kiel geführt.
90minuten: Nach dem Spiel gegen den FC Bayern warst du leicht angeschlagen, gegen Borussia Mönchengladbach hast du durchgespielt. Wie geht es dir derzeit?
David Nemeth: Inzwischen passt wieder alles. In den Tagen nach dem Spiel habe ich eine Muskelverhärtung gespürt, die hat sich aber im Lauf der Woche aufgelöst. Das ist kein Problem mehr.
90minuten: Diese Frage stelle ich natürlich vor dem Hintergrund, dass du zum ersten Mal seit mehreren Jahren regelmäßig und viel auf hohem Niveau zum Spielen kommst. Spürst du, dass das Auswirkungen hat?
Nemeth: Ich betreibe viel mehr Aufwand als in den Saisons davor und achte bei der Regeneration sehr auf meinen Körper. Direkt nach einem Spiel merke ich die Belastung schon, beim ersten Training der nächsten Woche dann nicht mehr. Aktuell fühlt sich alles ganz gut an.
90minuten: Das Spiel gegen Gladbach war zumindest als Zuseher bis kurz vor Schluss eine frustrierende Angelegenheit. Ihr hattet alles im Griff, ein Tor wollte aber lange nicht fallen.
Nemeth: Wir haben wirklich sehr gut gespielt, das Gegenpressing hat funktioniert. Der Ball ist trotz vieler Chancen lange nicht ins Tor gegangen, am Ende ist uns dann der Ausgleich gelungen.

90minuten: Das deckt sich mit den Zahlen der bisherigen Saison - die Defensive steht sehr solide, in der Offensive gibt es Luft nach oben. Gegen Gladbach warst du in vielen Szenen schon weit über die Mittellinie aufgerückt, gibt es trotzdem noch mehr, das du von deiner Position beitragen kannst, damit es vorne besser läuft?
Nemeth: Wie schon erwähnt, hat sich die ganze Mannschaft im Gegenpressing gut verhalten. Wenn man so hoch steht, bekommt man den Ball oft schneller wieder zurück, dann müssen wir weniger Verteidiger ausspielen.
90minuten: Am Ende habt ihr einen Punkt mitgenommen, der im Abstiegskampf wichtig sein kann. Auch drei Punkte wären wahrscheinlich greifbar gewesen. Wie ist die Stimmung im Team derzeit?
Nemeth: Wir sind hungrig! Dass gegen Gladbach mehr als ein Punkt drin war, wissen wir auch. Es ist aber wichtig, jetzt mit derselben Intensität weiterzumachen. Wir stehen vor extrem wichtigen Spielen und werden alles geben.
Mir war sehr wichtig, dass ich jede Woche spielen kann, ohne mir Sorgen über meinen Körper machen zu müssen. Davor hatte ich schon Respekt.
90minuten: Über die letzten Jahre hast du unfreiwillig sehr viel Zeit zu Hause, auf der Tribüne oder auf der Bank verbracht. In dieser Saison ist dir im Herbst der Sprung zum Stammspieler in der Bundesliga gelungen. Merkst du, dass da eine große Entwicklung passiert ist?
Nemeth: Ich war sehr lange verletzt. Mir war sehr wichtig, zu wissen, dass ich jede Woche spielen kann, ohne mir Sorgen über meinen Körper machen zu müssen. Das war ein Thema, vor dem ich schon Respekt hatte - dass die Probleme vielleicht wieder kommen könnten. Vor meinem ersten Einsatz in der Bundesliga war ich zweimal bei der U23 und habe mit mehr Spielpraxis gemerkt, dass es ein paar Dinge gibt, die noch nicht so funktionieren, wie ich mir das vorstelle. Daran arbeite ich immer noch, analysiere Fehler und versuche, sie nicht mehr zu machen.
90minuten: In Zweikämpfe gehst du offensichtlich wieder mit viel Selbstvertrauen. Würdest du sagen, du bist schon in der Nähe von 100 Prozent Leistung?
Nemeth: Nein, noch nicht. Es gibt in einigen Bereichen noch Luft nach oben.
90minuten: Um welche Bereiche geht es dir da?
Nemeth: Meine Positionierung im Defensivverhalten, wie ich mich zum Gegner stelle - da kann ich mich noch verbessern und arbeite auch jede Woche daran.
90minuten: In der vergangenen Saison wart ihr als Mannschaft extrem erfolgreich und durftet am Ende den Aufstieg feiern. Du warst zwar wieder fit, aber oft auf der Bank, weil alle gute Leistungen gebracht haben. Ich kann mir vorstellen, dass das keine einfache Situation ist. Wie bist du damit umgegangen?
Nemeth: Ich habe versucht, mich nicht hängenzulassen. Wenn die Mannschaft so gut spielt, kann man auch wenig sagen. Nach der Verletzung musste ich mich wieder heranarbeiten, ich konnte mich weiterentwickeln, obwohl ich nicht oft gespielt habe. Es war sehr lehrreich für mich, in meiner weiteren Karriere kann es mir aber helfen, einmal eine derartige Phase erlebt zu haben.
Ich habe oft mit meinem Berater gesprochen. Die beste Lösung war, bei St. Pauli zu bleiben und geduldig zu sein.
90minuten: Nachdem du die Verletzung überstanden hattest, waren Sorgen über die eigene Karriere wahrscheinlich kein Thema mehr. Aber warst du dir immer sicher, dass es sich bei St. Pauli ausgehen wird? Der Verein musste ja reagieren und hat einen zusätzlichen Innenverteidiger verpflichtet…
Nemeth: Man denkt natürlich oft darüber nach, was in unterschiedlichen Phasen einer Karriere helfen kann. Ich habe oft mit meinem Berater gesprochen. Die beste Lösung war, bei St. Pauli zu bleiben und geduldig zu sein. Die Mannschaft hat sehr gute Leistung gebracht, meine Aufgabe war es, weiter Gas zu geben und zu schauen, was passiert.
90minuten: Ich frage auch, weil ich vor kurzem mit Lion Schuster gesprochen habe, der als junger Spieler auch eine lange Verletzungspause durchlebt hat (>>> Zum Bericht). Solche Phasen wirken von außen gesehen enorm anstrengend, auch, weil man irgendwie den Fokus halten muss.
Nemeth: Ich kenne Lion gut. Es kann schon sehr helfen, sich mit anderen Spielern auszutauschen, die auch schon solche Erfahrungen gesammelt haben. Mir hat geholfen, mit Freunden zu reden. Man unterstützt sich gegenseitig. Ich habe zudem unterschiedliche Dinge ausprobiert, die nichts mit Fußball zu tun haben - das hat mir geholfen.
Ich habe die Situation so angenommen. Hätte ich andere Ansprüche gehabt, müsste ich mich selbst hinterfragen.
90minuten: Die aktuelle Saison hast du als Innenverteidiger Nummer vier und damit immer noch auf der Bank begonnen. Was waren im Sommer deine Erwartungen für die ersten Monate?
Nemeth: Ich habe die Situation so angenommen. Hätte ich andere Ansprüche gehabt, müsste ich mich selbst hinterfragen. Trotzdem habe ich natürlich versucht, im Training alles zu geben und mich bereitzuhalten. Leider hat sich ein Teamkollege verletzt, so bin ich in die Mannschaft gerückt.
90minuten: Ende November hast du einen Stammplatz übernommen. Du hast schon angesprochen, dass du das Thema Fitness damals noch im Hinterkopf hattest. Warst du vor dem Spiel - damals auch gegen Borussia Mönchengladbach - besonders nervös?
Nemeth: Ja, das würde ich schon sagen. Das letzte Bundesligaspiel war lange her, ich habe versucht, mit einfachen Aktionen hineinzufinden und sicher zu spielen. Zum Glück hatte ich zu Beginn einige Szenen, die einfach zu lösen waren. Ganz zufrieden war ich im Nachhinein nicht, inzwischen habe ich aber viel davon aufgearbeitet.
90minuten: Seit Sommer habt ihr mit Alexander Blessin einen neuen Trainer, Fabian Hürzeler hat Brighton & Hove Albion in der Premier League übernommen. Hatte das direkte Auswirkungen auf dich?
Nemeth: Wir schauen regelmäßig Videos an und trainieren viel individuell. Wir stehen in einem sehr guten Austausch, ich kann immer fragen, was ich in bestimmten Situationen besser machen muss. Meiner Entwicklung hat das extrem geholfen.
90minuten: Die Arbeit an deiner defensiven Positionierung hast du schon erwähnt. In welchen Bereichen bist du zufrieden mit deiner Entwicklung über die letzten Monate?
Nemeth: Da würde ich mein Defensivverhalten nennen. Darauf legen wir das größte Augenmerk: Wann schiebe ich heraus? Wann lasse ich mich fallen? Da habe ich mich schon verbessert, Potenzial gibt es aber immer noch. Ich habe immer sehr erfahrene Mitspieler neben mir, die mich dabei auch unterstützen.
Für mich war das der erste Kontakt mit dem Trainerteam, wir haben kurz miteinander gesprochen. Das ist schon cool.
90minuten: Eine erste "Belohnung" war, dass du im März auf die Abrufliste des Nationalteams gesetzt wurdest. Wie oft meldet sich jemand vom ÖFB bei dir?
Nemeth: Für mich war das der erste Kontakt mit dem Trainerteam, wir haben kurz miteinander gesprochen. Das ist schon cool. Ein Co-Trainer hat mir erklärt, dass sie immer wieder Spiele anschauen und mit mir zufrieden sind. Ich soll weiter gute Leistungen zeigen.
90minuten: Die nächsten Schritte wären eine Einberufung und das Debüt. Ich nehme an, dass das schon große Ziele sind.
Nemeth: Es wäre unglaublich, wenn das passiert. Der Fokus liegt jetzt aber ganz klar auf St. Pauli.
90minuten: Du hast noch ein Jahr Vertrag auf St. Pauli. In einem Podcast mit deinem Ex-Teamkollegen Tino Casali hast du vor kurzem erzählt, dass dich der damalige Mattersburg-Trainer Klaus Schmidt davon überzeugt hat, nicht nach Mailand zu wechseln, indem er dir im Burgenland einen klaren Weg aufgezeigt hat. Würdest du sagen, es geht dir mit Trainer Alexander Blessin und St. Paulis Geschäftsleiter Sport Andreas Bornemann ähnlich?
Nemeth: Klaus hat mich damals sehr unterstützt und - genau wie Alex jetzt - viel individuell mit mir trainiert und analysiert. Mir ist das sehr wichtig, um Kleinigkeiten, in denen ich mich verbessern kann, herauszuarbeiten. Das passt gut.
90minuten: Von außen betrachtet gibt es gerade die Chance, sich als Spieler ein Stück weit mit dem Verein mitzuentwickeln: Vom Aufstiegskandidaten, zum Bundesligaklub, zum - wenn alles gut läuft - etablierten Bundesligaklub. Erlebst du das auch so?
Nemeth: Klar - das wäre richtig cool, dafür müssen wir in den letzten Runden aber auch alles hineinwerfen. Man merkt, dass der Verein Schritte macht.
Wenn mir als Kind jemand erzählt hätte, wo ich jetzt bin, hätte ich das sofort unterschrieben.
90minuten: St. Pauli kennt man als Verein, der für eine offene Gesellschaft und damit verbundene Werte einsteht. Wird das euch als Spielern nähergebracht? Lernt man vielleicht etwas über verschiedene Gruppen von Menschen, mit denen man als Fußballprofi sonst weniger in Kontakt kommt?
Nemeth: Ja, es gibt viele Events, wo wir unterschiedliche Leute kennenlernen und uns mit ihnen unterhalten. Die erzählen einem auch, was sie in ihrem Leben beschäftigt. Wir beschäftigen uns auch als Mannschaft viel damit. Ich finde es wichtig, dass solche Themen präsent sind und ein Austausch stattfinden kann.
90minuten: Nach einer halben Saison als Bundesliga-Stammspieler kann man abschließend sagen, dass du auf diesem Niveau voll angekommen bist. Du hättest in deiner Karriere immer wieder andere Wege gehen können. Bist du damit zufrieden, wie sie bisher verlaufen ist?
Nemeth: Wenn mir als Kind jemand erzählt hätte, wo ich jetzt bin, hätte ich das sofort unterschrieben. Ich gebe mich damit noch nicht zufrieden, bin aber sehr glücklich damit, wie es jetzt ist.
Vielen Dank für das Gespräch!