Jan-Pieter Martens: "Erstaunlich, wie lange Sturm an der Raute festhält"
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Jan-Pieter Martens: "Erstaunlich, wie lange Sturm an der Raute festhält"

Sturms Meisterschafts-Held von 1999 steht beim bevorstehenden Champions-League-Duell gegen Brügge auf der "falschen" Seite. Im Interview beurteilt Martens die brisante Ausgangslage für beide Vereine.

Als Spieler prägte Jan-Pieter Martens eine Ära bei Sturm Graz mit: Zwischen 1998 und 2003 wirbelte der Belgier gemeinsam mit Größen wie Ivica Vastić, Mario Haas und Markus Schopp auf den heimischen Plätzen umher und gelegentlich auch übers Champions-League-Parkett. 

Den zweifachen Meister zieht es auch heute noch regelmäßig nach Österreich, dieser Tage wieder - diesmal rein beruflich. Martens ist seit Sommer Head of Scouting bei Club Brügge, Sturms nächsten Champions-League-Gegner am Mittwoch (21 Uhr im LIVE-Ticker).

"Ich bin am Montag in Wien und am Dienstag in Salzburg, am Mittwoch dann schon in Klagenfurt. Zum ersten Mal seit langem komme ich nach Österreich, ohne es nach Graz zu schaffen", erklärt Martens im Interview mit 90minuten

90minuten: Sturm-Fans haben ja schon vor dem Spiel einen guten Grund, um sich zu ärgern. Wie schade findest du es, dass das Spiel in Klagenfurt stattfinden muss?

Jan-Pieter Martens: Für die Fans ist es zuhause natürlich lustiger. Man wünscht sich immer, im eigenen Stadion, einer Bastion, einer angsteinflößenden Heimstätte zu spielen. Aber gut, das Spiel selbst wird davon wenig beeinflusst werden.

90minuten: Du warst als Scout - zuerst bei Schalke 04, jetzt in Brügge - viel beschäftigt und unterwegs. Wie oft kommst du dazu, dir Sturm-Spiele anzuschauen?

Martens: In den letzten Jahren war ich vielleicht ein Mal pro Jahr in Graz im Stadion, ich habe oft versucht, das an einen Scouting-Auftrag zu koppeln. Meistens war ich woanders unterwegs, weil es dort für meinen Job auch interessant war. Wenn ich es nach Österreich schaffe, versuche ich aber ein Sturm-Spiel mitzunehmen, ich habe sie aber auch schon in Salzburg gesehen oder bei der Austria.

Mein Herz brennt bis zu meinem Lebensende für Sturm Graz, aber nächste Woche will ich unbedingt gewinnen.

Jan-Pieter Martens

90minuten: Das direkte Duell ist für beide Vereine enorm wichtig. Die nächsten Aufgaben werden nicht einfacher, fürs Weiterkommen braucht es dringend Punkte. Rechnest du damit, dass man das dem Spiel anmerkt?

Martens: Früher hatte man in der Gruppe einen oder vielleicht zwei unmögliche Gegner. Gefühlt musste man einmal über sich hinauswachsen und dann gegen einen gleichstarken Verein gut aussehen, um als Dritter die Europa League durchzukommen. Das ist jetzt komplett anders. Es braucht mehrere Überraschungen, um überhaupt eine Chance zu haben, weiterzukommen. Bei der Auslosung hat sich Sturm Graz genau wie Club Brügge ausgerechnet, gegen wen man gewinnen muss. Es wird ein spannendes Spiel auf Augenhöhe, am Ende wird es von der Tagesform abhängen. Ich trete jetzt einmal die offene Tür mit Floskeln ein, die jeder schon tausendmal gehört hat, aber es ist einfach so.

Die Unterschiede zwischen den beiden Teams sind nicht so groß. Sturm ist in seiner Raute gut eingespielt, die sportliche Führung verkörpert seit Jahren dieselbe Idee. Bei uns ist die Qualität in Summe vielleicht ein bisschen höher, die Mannschaft hat sich aber gerade neu gefunden, wir sind weniger gefestigt. Ich glaube, dass es ein enges Spiel wird. Mein Herz brennt bis zu meinem Lebensende für Sturm Graz, aber nächste Woche will ich unbedingt gewinnen. Auf blöde Sprüche oder Österreicher, die mich dann im Nachhinein auslachen, kann ich nach dem Spiel ganz gut verzichten (lacht).

90minuten: Unter anderen Umständen könnte man es sich jetzt leicht machen und sagen, dass ein Unentschieden die angenehme Lösung wäre. Das hilft in diesem Fall leider keinem der beiden Vereine weiter.

Martens: Wenn ich wüsste, dass wir nachher Juve, AC Milan und Manchester City schlagen, ist das für mich schon okay. Aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr groß. Ich nehme gerne die drei Punkte jetzt schon mit.

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Martens mit Mario Haas (rechts) im Jahr 1999

90minuten: Ganz ausschließen soll man das ja nie, gegen Dortmund hat es am ersten Spieltag für lange Zeit nicht so schlecht ausgesehen. Wenn später im Bewerb der ein oder andere Verein zu rotieren beginnt, ist eine Überraschung ja nicht auszuschließen.

Martens: Ich glaube, dass die Unterschiede inzwischen zu groß sind. Wenn Manchester City fünf Spieler schont, ist es für uns trotzdem noch sehr schwierig. Früher hat man mehr darauf hoffen können, das sechste Gruppenspiel war oft eine gute Gelegenheit. Mittlerweile ist es für die kleineren Vereine noch schwieriger geworden. Selbst wenn wir gegen Sturm gewinnen, müssen wir auswärts gegen Celtic und zuhause gegen Sporting weitere Punkte holen, um weiterzukommen. Du brauchst nicht einen Märchenabend, sondern zwei oder drei.

Auch ein Sturm-Kicker ist dabei: Diese Neuen funktionieren (noch) nicht:


90minuten: Siehst du im neuen Modus eine Verbesserung? Einerseits ist es wegen der vielen Paarungen natürlich abwechslungsreicher geworden, andererseits sportlich sicher noch herausfordernder.

Martens: Finanziell ist es besser. Für die Fans auch, weil man fix gegen acht Gegner spielen kann, vorher waren es drei. Ich finde es nicht uninteressant. Wir waren lange festgefahren in der Struktur von einem Heim- und einem Auswärtsspiel, auch in der Liga. Es ist nicht schlecht, das einmal zu durchbrechen. Man muss dem ganzen eine Chance geben.

Oft ist es schon so, dass man taktisch ausgehebelt wird, wenn man zu lange bei einem System bleibt. Wir versuchen da sehr flexibel zu sein.

Jan-Pieter Martens

90minuten: Was können wir uns aus österreichischer Sicht von Brügge erwarten? Du hast es schon angesprochen, der Trainer ist noch nicht sehr lange im Amt, du bist selbst erst seit Sommer da. 

Martens: Ich glaube, dass Sturm und Brügge eine ähnliche Ausstrahlung haben. Es sind Vereine mit vielen Fans. Wir sind in den letzten fünf Jahren viermal Meister geworden, sind damit zur Zeit die Benchmark in Belgien. Es gibt eine richtig professionelle Infrastruktur, alles ist sehr modern aufgebaut. Wir wollen dominant spielen und den Ball haben, wir stellen uns nicht hinten hinein - egal ob in Österreich oder zuhause gegen Dortmund. Teilweise stößt man damit an seine Grenzen, aber wir sind der Meinung, dass wir irgendwann davon profitieren, wenn wir versuchen, das immer und überall durchzusetzen.

Ein bestimmtes Spielsystem steht dabei gar nicht fest. Für mich ist es schon erstaunlich, wie lange man in Graz schon erfolgreich an dieser Raute festhält. Oft ist es schon so, dass man taktisch ausgehebelt wird, wenn man zu lange bei einem System bleibt. Wir versuchen da sehr flexibel zu sein. Der Kader ist sehr international, wir versuchen aber immer auch ein paar Spieler aus der eigenen Akademie dabei zu haben. Es sollen auch immer einige Spieler Belgier sein. Wir haben, glaube ich, eine gute Mischung.

90minuten: Über die ersten Monate der Saison hat Sturm sich zwar nicht schlecht geschlagen, die Stimmung ist aber deutlich gedämpfter als sie es vor kurzem noch war. Wo könnten die Probleme aktuell liegen?

Martens: Für mich ist das eine ganz normale Dekompression. Sturm ist es nicht gewohnt, jedes Jahr Meister zu werden. Letztes Jahr mit dem Double war ein unglaubliches Highlight, es ist klar, dass man danach in die Normalität zurückkommt. Dazu kommen die Spiele in der Champions League. Der Fokus ist viel breiter, das nimmt etwas von der Substanz der Spieler weg. Für mich ist das alles nicht ungewöhnlich. Wir haben zum Beispiel auch auch bei KRC Genk verloren, die sind bei uns Tabellenführer. Sie spielen in dieser Saison nicht europäisch und leben von Samstag zu Samstag. Ich würde das alles noch nicht zu hoch hängen am Anfang der Saison.

90minuten: Kommen wir zu deinem Fachgebiet: Sturm hat bei der Kaderplanung in den letzten Jahren viel richtig gemacht. Jedes Jahr werden Spieler weiterverkauft, in letzter Zeit wurde das alles immer intensiver. In dieser Saison hat man sich gleich mehrere Spieler von größeren Vereinen ausgeliehen und denkt sichtlich kurzfristiger. Kann das alles irgendwann zu viel werden?

Martens: Kann es schon, aber ich glaube nicht, dass das bei Sturm passiert. Das ist einfach das Modell, bei Brügge ist das ähnlich. Wir haben letztes Jahr im Sommer Igor Thiago geholt, im Januar kam das erste richtig gute Angebot, im Februar haben wir ihn verkauft, nachdem er sieben Monate im Verein war. Antonio Nusa stand auf dem Punkt, bei uns zu explodieren und wurde dann schon von Leipzig geholt. Das ist einfach die Natur der Dinge, man muss vorbereitet sein. Wenn der Preis stimmt, sind die Spieler weg. Ich habe in den letzten Jahren mit Wertschätzung verfolgt, wie es bei Sturm läuft. Ich finde, sie haben es richtig gut gemacht.

Ich sitze jetzt näher an den Entscheidungen, spreche jeden Tag mit den Leuten, die Transfers abwickeln. Ich habe insgesamt mehr Einfluss.

Martens über seinen neuen Job

90minuten: Du hast im Juli deinen neuen Job angetreten und bist in Brügge jetzt für die Scouting-Abteilung verantwortlich. Wie hast du dich bisher zurechtgefunden? Was hat sich für dich verändert?

Martens: Es ändert sich der Fokus. Auch wenn ich natürlich auch in andere Länder geschaut habe, war ich bei Schalke hauptsächlich für Belgien, Holland und Frankreich zuständig. Als Head of Scouting arbeite ich jetzt auch strukturell und marktübergreifend. Bei Schalke mussten Transfers in den letzten Jahren außerdem immer so billig wie möglich sein. Der erste Reflex war immer, nach ablösefreien Spielern zu suchen, oder denen, die eine niedrige Ausstiegsklausel hatten. Auch bei ablösefreien Transfers musste man das Gehalt im Auge behalten, Leihspieler durften nicht zu viel kosten. Es war immer ein Kampf gegen die Finanzen.

Brügge gibt zwar keine Unmengen für Transfers aus, aber es ist schon etwas möglich. Was sich auch geändert hat: In Brügge haben wir unsere zweite Mannschaft in der zweiten Liga als eine Art Einstiegsverein für junge Talente. Wir schauen sehr auf 16- oder 17-Jährige, die sich dort entwickeln können. Das war bei Schalke nicht der Fall: Die zweite Mannschaft war von der ersten abgeschnitten, was Scouting betrifft. Ich sitze jetzt näher an den Entscheidungen, spreche jeden Tag mit den Leuten, die Transfers abwickeln. Ich habe insgesamt mehr Einfluss.

90minuten: In deinem Leben hast du schon viele andere Sachen gemacht, die nichts mit Fußball zu tun haben. Wie klar war es für dich vor dem Sommer, dass du deine Karriere trotzdem weiter verfolgst und dich zum Beispiel nicht intensiver mit Musik beschäftigst?

Martens: Das habe ich schon einige Zeit lang gemacht, aber mich holt der Fußball dann doch immer wieder zurück. Ich habe keinen wirklichen Karriereplan, aber zwei Sachen, die ich einigermaßen gut kann - Fußball und Musik. Ich versuche beides zu genießen und mich zu verbessern. Für manche ist das vielleicht gar nicht so nachvollziehbar, aber in meinem Leben spielt beides eine wichtige Rolle. Manchmal bin ich auf dem Weg zum Spiel und muss mir schnell eine Idee für einen Song aufschreiben, am Klavier denke ich dafür manchmal an Spieler, die ich mir anschauen wollte.

Das sind zwei Leidenschaften, die bei mir immer parallel laufen. Morgen Abend habe ich einen Auftritt, ab Nachmittag ist alles auf Musik ausgerichtet. Am nächsten Tag bin ich dann wieder auf dem Weg zum nächsten Spiel. Ich komme aus einer sehr musikalischen Familie - ich habe meine erste Musikaufnahme mit vier Jahren gemacht, zu diesem Zeitpunkt habe ich zuhause unterm Stuhl wahrscheinlich auch schon meine ersten Tore geschossen.


Vielen Dank für das Gespräch!



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