Als einer von wenigen Fußballprofis kennt Marco Grüll eine 40-Stunden-Woche. Vor seiner Karriere arbeitete er neben dem Amateurfußball unter anderem bei der Post. Erst mit 20 Jahren wurde der Salzburger zum Fußballprofi. Über die Stationen SV Ried und SK Rapid erfüllte sich der 26-Jährige im Sommer seinen Traum von der Deutschen Bundesliga mit dem Wechsel zu Werder Bremen.
Im Interview mit 90minuten spricht der Werder-Profi über die Vorteile einer Ausbildung ohne Akademie, seinen Abschied von Rapid, seinen meinungsstarken Kapitän Marco Friedl und seine aktuelle Topform bei Werder Bremen.
90minuten: Du kommst vom Land. Für dich war Wien schon eine große Umstellung. Wie geht es dir in Bremen?
Marco Grüll: Es ist noch einmal eine andere Umstellung. Natürlich ist Wien um einiges größer. Ich komme vom Land und mag es gerne ruhiger. Ich habe mich hier sehr gut eingelebt und fühle mich sehr wohl.
90minuten: Wie groß ist der Unterschied zum Training bei Rapid?
Grüll: Die Qualität ist höher, alles ist schneller. Es passieren weniger Fehler, und es hat am Anfang natürlich etwas Zeit gebraucht, bis man sich daran gewöhnt. Mittlerweile ist mir das ganz gut gelungen.
90minuten: Wie haben dich die Fans aufgenommen? Gab es Vorbehalte wegen der Vorkommnisse nach dem Wiener Derby?
Grüll: Nein, das ist kein Thema mehr gewesen. Ich wurde sehr gut aufgenommen.
"Als Kapitän ist es seine Aufgabe auch mal kritische Themen anzusprechen und voranzugehen. Außerdem gehört eine gewisse Reibung zu einer Fußballmannschaft dazu, die muss auch nicht immer vom Kapitän ausgehen."
90minuten: Kapitän Marco Friedl nimmt sich kein Blatt vor den Mund, kritisiert auch einmal öffentlich den Trainer oder den Verein. Wie erlebst du ihn als Führungspersönlichkeit?
Grüll: Marco ist unser Kapitän und füllt diese Aufgabe sehr gut aus. Er spricht Dinge klar an, ist aber nicht der Lauteste. Das tut uns gut. Er ist ein cooler Typ.
90minuten: Sorgen seine klaren Worte also nicht für schlechte Stimmung in der Mannschaft?
Grüll: Nein, überhaupt nicht. Als Kapitän ist es seine Aufgabe auch mal kritische Themen anzusprechen und voranzugehen. Außerdem gehört eine gewisse Reibung zu einer Fußballmannschaft dazu, die muss auch nicht immer vom Kapitän ausgehen. Wenn alle immer sagen, dass alles passt, kommst du nicht weiter. Da helfen manchmal klare Worte. Danach ist aber schnell wieder alles vergessen.
90minuten: Du hast das Jahr 2024 mit einem Doppelpack gegen Union Berlin abgeschlossen und gegen Heidenheim im neuen Jahr wieder zwei Treffer erzielt. Wie fühlt sich das an?
Grüll: Das ist natürlich ein sehr gutes Gefühl. Am Ende des Tages geht es aber darum, das Spiel zu gewinnen. Bezüglich Tore und Assists kann es ruhig so weitergehen.
90minuten: Wie gut harmonierst du bereits mit deinen Kollegen in der Offensive?
Grüll: Natürlich braucht es seine Zeit. Du musst die Abläufe kennenlernen. Mittlerweile verstehe ich mich ganz gut mit allen Mitspielern. Durch jedes Training lernst du deine Kollegen besser kennen, dann funktionieren manche Dinge automatisch.
90minuten: Am Wochenende steht das Duell mit dem BVB und Marcel Sabitzer an. Dort geht es turbulent zu, es gab einen Trainerwechsel. Was erwartest du dir von dem Spiel?
Grüll: Auch wenn sie zuletzt nicht so erfolgreich waren, sind sie immer noch eine Mannschaft mit sehr viel Qualität und starken Spielern. Dazu sind sie enorm heimstark. Wir müssen 100 Prozent geben.
"Ich weiß, wie es ist, 40 Stunden zu arbeiten und nebenbei Fußball zu spielen. Man arbeitet, geht ins Training, fährt nach Hause und geht schlafen. Am nächsten Tag geht es wieder von vorne los."
90minuten: Du bist einen etwas anderen Weg zum Profi gegangen. Statt einer Akademie hast du früh im Erwachsenenbereich gespielt. Mit 20 Jahren warst du Regionalligaspieler bei St. Johann. War es ein Vorteil, früher mit Erwachsenen zu spielen?
Grüll: Es gibt natürlich Vor- und Nachteile. Es ist auf jeden Fall der schwierigere Weg. Dafür wird man vielleicht ein anderer Spielertyp, weil man nicht in dem Schema war, das die meisten durchlaufen. Es ist ein Vorteil, früh mit Erwachsenen zu spielen, weil man schneller lernt und sich besser darauf einstellt. Aber in der Akademie gibt es natürlich andere Vorteile.
90minuten: Du hast auch im Arbeitsleben Erfahrungen gesammelt, unter anderem bei der Post gearbeitet. Hilft dir diese Erfahrung, bodenständig zu bleiben?
Grüll: Ich weiß, wie es ist, 40 Stunden zu arbeiten und nebenbei Fußball zu spielen. Man arbeitet, geht ins Training, fährt nach Hause und geht schlafen. Am nächsten Tag geht es wieder von vorne los. Trotzdem hatte ich immer den Traum, Profifußballer zu werden.
"Ob sie ein Meisterkandidat sind oder nicht, müssen sie selbst entscheiden. Der Kader ist jedenfalls stark genug, um vorne mitzuspielen."
90minuten: War für dich von Anfang an klar, dass du Profi werden möchtest?
Grüll: Ich habe mir nie den Druck gemacht, dass ich Profi werden muss. Ich hätte auch schon früher zu einem Profiverein wechseln können, habe aber immer gesagt, es muss alles passen. Mit der SV Ried hat das geklappt. Ich denke, ich habe in meiner Karriere bislang viele richtige Entscheidungen getroffen.
90minuten: Rapid hat mehrmals versucht, dich zu verpflichten, auch nach dem Aufstieg in die Bundesliga. Salzburg war ebenfalls interessiert. Wie hast du das Tauziehen um dich erlebt?
Grüll: Nach dem Aufstieg wollte ich erst einmal ein Jahr in der Bundesliga viel spielen, und bei Rapid war das nicht ganz klar. Bei Ried wusste ich, dass ich wahrscheinlich viel Einsatzzeit bekomme. Rapid ist drangeblieben, und nach dem Klassenerhalt mit Ried hat es dann geklappt.
90minuten: Wie intensiv verfolgst du noch Rapid?
Grüll: Wenn es sich ausgeht, schaue ich mir die Spiele an. Sie sind auf einem guten Weg.
90minuten: Ist Rapid ein Titelkandidat?
Grüll: Sie machen es sehr gut und haben gute Transfers getätigt. Ob sie ein Meisterkandidat sind oder nicht, müssen sie selbst entscheiden. Der Kader ist jedenfalls stark genug, um vorne mitzuspielen.
90minuten: Im Sommer 2023 gab es zahlreiche Gerüchte um einen Rapid-Abgang von Marco Grüll. Ein Jahr später hat es nach Vertragsende geklappt. Wie lief die Kommunikation mit Rapid ab?
Grüll: Ein Wechsel war immer mal wieder ein Thema. Die Kommunikation war von beiden Seiten offen. Nach dem fixierten Transfer habe ich das Frühjahr noch mit vollem Einsatz fertig gespielt. Mit der Deutschen Bundesliga ging für mich ein Traum in Erfüllung.
90minuten: In den letzten beiden Lehrgängen des Nationalteams warst du nicht dabei. Gab es Kontakt zum Teamchef?
Grüll: Beim ersten Mal habe ich nicht viel gespielt, da gab es keinen Kontakt. Das ist ganz normal. Beim zweiten Mal hatte ich eine Oberschenkelverletzung. Wenn ich meine Leistung im Verein bringe, werde ich sicher wieder ein Thema fürs Nationalteam.
90minuten: Bei der EURO warst du im Kader, bist aber nicht zum Einsatz gekommen. Dennoch hast du den Gruppensieg hautnah miterlebt. Was waren deine Eindrücke?
Grüll: Ich habe viel mitgenommen. Die Stimmung in den Stadien hat mich beeindruckt, ganz Österreich stand hinter uns. Es war ein tolles Erlebnis, aber das Ausscheiden war sehr bitter.
90minuten: Die WM 2026 wird ein klares Ziel für dich sein, nehme ich an.
Grüll: Natürlich ist es das große Ziel, die Qualifikation zu schaffen. Dafür werden wir alles geben.