"In Amsterdam brauchst du eine 'grote bek', eine große Gosch'n, sonst tust du dir dort schwer", sagt Felix Gasselich. Er habe sich das während seiner Zeit bei Ajax angeeignet.
Wer mit dem 68-Jährigen spricht, hat keinen Grund, das anzuzweifeln.
Der Wiener hat von 1983 bis 1985 beim holländischen Rekordmeister gespielt. Unter anderem mit dem aktuellen Bondscoach Ronaldo Koeman, Marco van Basten und Frank Rijkaard.
Im großen 90minuten-Interview erzählt der 19-fache ÖFB-Teamspieler über Trainings um 3 Uhr in der Früh, Gurkerl gegen seinen Trainer Johan Cruyff, seine vielen Spitznamen in Amsterdam und wie ihn Happel nach Holland brachte.
90minuten: Was sind Ihre Erinnerungen an den Sommer 1983?
Felix Gasselich: Da muss ich ein bisschen vorgreifen. Ich habe schon im Winter einen Vorvertrag bei Lazio unterschrieben. Der Vertrag hat nur für die Serie A gegolten, Lazio ist im Sommer auch wirklich aufgestiegen. Dann hat Giorgio Chinaglia den Klub übernommen und hat mir erklärt, dass ich nicht kommen brauche, er zwei andere holt. Ich war frustriert, weil ich immer schon ins Ausland wollte. Dann kam plötzlich ein Anruf von Ernst Happel, er war Trainer beim HSV und hat einen Zehner gesucht. Allerdings hatte der HSV schon mit Wolfram Wuttke einen Vertrag, der aber nur gegolten hat, wenn Schalke absteigt. Das ist dann aber tatsächlich eingetreten.
90minuten: Und dann?
Gasselich: Dann hat mich Happel wieder angerufen und gesagt: "Felix, du bist jetzt zwei Mal eingfahrn, ich besorg‘ dir einen Verein. Es wird sich jemand aus Holland bei dir melden." Als die Saison aus war, wollte ich in den Urlaub fahren, doch dann hat Ton Harmsen, Präsident von Ajax, angerufen. Sie haben meine Verlobte und mich für eine Woche eingeladen, wir sind nach Amsterdam gefahren, haben uns alles angeschaut.
90minuten: Was war das Angebot?
Gasselich: Ein Dreijahres-Vertrag. Finanziell nicht so gut wie bei Lazio und dem HSV, aber besser als bei der Austria. Ich hatte keinen Manager, habe gar nicht verhandelt. Ich habe mir gedacht: "Die Chance packe ich!" Ich habe mir ein Spiel angeschaut, da haben Johan Cruyff und Sören Lerby gespielt, Ajax wurde Meister.
90minuten: Wieviel Ablöse hat Ajax damals an die Austria bezahlt?
Gasselich: Als ich nach Österreich zurückgekommen bin, hat mir Austria-Präsident Joschi Walter gesagt, dass es zwölf Millionen Schilling waren.
90minuten: Später hat die Staatsanwaltschaft in den Niederlanden unter anderem Ihren Transfer wegen des Verdachts auf Steuerschulden und Betrug untersucht, es waren elf Leute von Ajax vor Gericht.
Gasselich: Das war für mich, als ob der Blitz eingeschlagen hätte. Da muss bei der Transfersumme irgendwas verkehrt gelaufen sein. Ich musste in Österreich deswegen zum Finanzamt und aussagen.
"Mein Gegenspieler vom ersten Tag an war Sonny Silooy. Der ist die 100 Meter mit dem Ball in 11 Sekunden gelaufen. Ich habe im ersten Monat keinen Ball berührt."
90minuten: Als Sie nach Ihrer Unterschrift im Sommer zur neuen Saison gekommen sind, war das ein anderes Ajax als in den Wochen davor.
Gasselich: Im August komme ich dorthin, denke mir: "Hoppala, das ist ja eine U21! Na servas." Ich war mit meinen 27 Jahren der zweitälteste Spieler im Kader. Nach dem ersten Training habe ich meine Meinung revidiert, die konnten alle richtig gut kicken. Und dann haben sie noch einen Neuen geholt: Ronald Koeman von Groningen, er war damals 20 Jahre alt.
90minuten: Johan Cruyff hat in derselben Transferzeit Ajax verlassen und ist zu Feyenoord gewechselt. Wie war die Stimmung innerhalb des Teams?
Gasselich: Cruyff war eine Koryphäe. Er hat Spieler um sich geschart, die gemacht haben, was er gesagt hat. Er wollte den ganzen Verein übernehmen. Spieler wie Marco van Basten und Gerald Vanenburg hätten unter ihm nicht gespielt. Es gab Krach zwischen Cruyff, seinem Schwiegervater und Ajax. Ajax hat dann Aad de Mos als Trainer geholt. Es hat aber niemand geglaubt, dass Cruyff zu Feyenoord geht. Das war für den Ajax-Vorstand erschütternd.
90minuten: Sie haben ihn ersetzt.
Gasselich: Alle waren sehr ehrgeizig, es hat immer Zores gegeben. Jeder wollte unbedingt Meister werden, ins Nationalteam und ins Ausland. Und jeder wollte Zehner sein. Gerald Vanenburg und John van’t Schip wollten Zehner sein, aber ich war halt der technisch Beste. Mein Lieblingsspiel war die Hösche, Rondo sagt man ja jetzt, da war ich der König. Außerdem gab es Bewerbe.
90minuten: Welche Bewerbe?
Gasselich: Zielschießen, punktgenaue weite Pässe, alles mit links und rechts. Köpfeln konnte ich auch, habe ich aber nie gemacht, weil ich ja ein Zehner war. Ich habe mir die Bälle immer wie eine Primaballerina mit dem Fuß runtergenommen. Bei diesen wöchentlichen Sessions hatte ich in Wahrheit nur einen Gegner: Ronald Koeman. Seine Schusstechnik war extrem gut. Seine 60-Meter-Pässe waren ein Strich.
90minuten: Wie war das Training sonst?
Gasselich: Das Training bei der Austria war eigentlich härter. Aber bei Ajax wurden viel mehr Eins-gegen-Eins-Situationen trainiert. Da war mein Gegenspieler vom ersten Tag an Sonny Silooy. Der ist die 100 Meter mit dem Ball in 11 Sekunden gelaufen. Ich habe im ersten Monat keinen Ball berührt. Dann war der Spaß für mich vorbei, dann habe ich die Ellbogen eingesetzt.
Marco van Basten
90minuten: Wie lief sonst die Integration ins Team?
Gasselich: Die haben ja alle in der Volksschule schon Deutsch gelernt. Ich habe mich schnell integriert, weil ich mit meinen Mitspielern überall hin mitgegangen bin. Ich war viel mit Frank Rijkaard unterwegs. Silooy hat mich oft zu seiner Familie mitgenommen. Ich habe schon bald Holländisch gesprochen. Ich war älter, ich war der Lehrmeister der Burschen, sie haben auf mich gehört. Ich habe dort viel über Kommunikation gelernt.
90minuten: Was denn?
Gasselich: Früher war ich immer ruhig, habe mir alles angeschaut. In Amsterdam brauchst du eine "grote bek", eine große Gosch’n, sonst tust du dir dort schwer. Das habe ich mir angeeignet.
90minuten: Sind Sie am Abend auch mit Ihren Mitspielern unterwegs gewesen?
Gasselich: Ja. Einmal war ich mit Rijkaard, van Basten und van’t Schip unterwegs, wir sind zu spät heimgekommen. Am nächsten Tag in der Früh fragt uns Trainer de Mos, wie die Nacht war. Wir nur: "Wir haben super geschlafen." Sagt er: "Ihr könnt euch am Vormittag alle ausrasten, am Nachmittag ist frei. Gasselich, Rijkaard, van Basten und van’t Schip kommen morgen um 3 Uhr in der Früh." Im Stadion wurde das Flutlicht eingeschalten und wir vier sind eineinhalb Stunden im Kreis gelaufen.
90minuten: Am 18. September 1983 ist Cruyff mit Feyenoord nach Amsterdam zurückgekehrt. Ajax hat das Spiel mit 8:2 gewonnen. Wie war die Stimmung ihm gegenüber damals?
Gasselich: Meine Mitspieler haben ihn vergöttert. Cruyff hat nicht vermutet, dass ihm in diesem Match jeder Ajax-Spieler zeigen wollte, was er kann. So ein Match bringst du eigentlich nie zusammen. Da ist alles aufgegangen. Trotzdem haben ihm die Amsterdamer applaudiert, keiner hat ihn ausgepfiffen.
90minuten: War Ihnen von Anfang an klar, dass van Basten ein Ausnahmestürmer ist?
Gasselich: Er war nicht nur im Fußball gut. Im zweiten Jahr habe ich in Amstelveen in der Nähe von ihm gelebt. Wir waren im Bad, ich bin vom Ein-Meter-Brett gesprungen, er hat vom 10-Meter-Brett drei Salti gemacht. Am Platz war er top, konnte links wie rechts schießen, hatte einen super Antritt und einen tollen kurzen Haken. Seine große Stärke war, dass er aus jeder Lage schießen konnte.
90minuten: Wie war Koeman?
Gasselich: Am Anfang war er eher ruhig. Das hat sich mit der Zeit geändert. Er war sehr ehrgeizig. Da hat es im Training öfter gekracht. Ich hätte eher getippt, dass er nach England geht, weil er der Typ dafür war. Aber er ist zum FC Barcelona gegangen. Ich habe geglaubt, dass er es dort schwer haben wird, aber er hat sich durchgesetzt. Bei Rijkaard und van Basten habe ich gewusst, dass das ganz Große werden.
90minuten: In der zweiten Saison sind Sie Meister geworden. Wie war die Meisterfeier?
Gasselich: Top! Wir haben alles niedergeräumt in Amsterdam. Cruyff war damals schon im Anmarsch. Im Winter davor war de Mos als Trainer weg, Spitz Kohn hat übernommen. Der hat so geheißen, weil er super mit dem Spitz schießen konnte.
"Cruyffs Lieblingsspiel war auch die Hösche. Ich war angefressen und habe ihm immer wieder Gurken gespielt."
90minuten: Im Sommer 1985 kam Cruyff zu Ajax zurück, als Trainer. Wie war das?
Gasselich: Wir haben alle geglaubt, dass wir viel Technik trainieren, viele Spielformen. Aber das Gegenteil war der Fall, wir haben nur Kondition trainiert, sind nur gelaufen. Viele Spieler waren nicht einverstanden, wir hatten einen holprigen Start. Dann wurde viel gewechselt. Der Tormann musste wie ein Libero mitspielen.
90minuten: Sie haben unter Cruyff keine Rolle gespielt. Warum?
Gasselich: Er hat mich nicht als Zehner hinter van Basten, sondern als linker Mittelfeldspieler ganz draußen spielen lassen. Van’t Schip war sein Lieblingsspieler, der hat dann Zehner gespielt. Dann hat Cruyff auf der Position im linken Mittelfeld Arnold Mühren von Manchester United geholt, der hat genau das gemacht, was er wollte, ist nur die Linie entlang marschiert. Da hat sich viel Frust aufgestaut.
90minuten: Wie hat sich das bemerkbar gemacht?
Gasselich: Cruyffs Lieblingsspiel war auch die Hösche. Ich war angefressen und habe ihm immer wieder Gurken gespielt. Da haben dann die anderen Spieler zu lachen begonnen, was Cruyff mächtig geärgert hat. Jedenfalls haben wir jede Woche diskutiert, warum ich nicht spiele. Er hat immer nur gesagt: "Vielleicht nächste Woche." Dann kam das Europacup-Spiel gegen den FC Porto. Wir haben auswärts 0:2 verloren. Cruyff hat mir angekündigt, dass ich daheim spielen werde.
90minuten: Haben Sie aber nicht.
Gasselich: Genau. Da habe ich ihm noch vor dem Match gesagt: "Trainer, wenn wir nicht weiterkommen, will ich sofort weg." Wir spielen 0:0, scheiden aus.
90minuten: Hatten Sie zu dem Zeitpunkt Kontakt zu anderen Klubs?
Gasselich: Ich hatte ein Angebot von Feyenoord. Aber es war keine Übertrittszeit, ich hätte warten müssen. Aber ich kann nicht gut warten, ich wollte immer spielen. Dann hat Club Brügge angerufen, konnte aber die Ablöse nicht bezahlen. Dann kam das Angebot vom LASK, dorthin konnte ich sofort wechseln. Mich hat Franz Grad privat bezahlt, so ist er damals zum Fußball gekommen. Dass ich nicht im Ausland geblieben bin, sondern nach Österreich zurückgekehrt bin, war der einzige Fehler, den ich als Fußballer je gemacht habe. Das war eine Kurzschlussentscheidung, ich hätte mehr nachdenken sollen.
Johan Cruyff
90minuten: Sie haben über die Gurkerl gegen Cruyff erzählt. In Holland hatten Sie den Spitznamen "Portenkoning", also "Gurkerlkönig".
Gasselich: Für die Holländer war es nicht so schlimm, ein Gurkerl zu kriegen, die Spieler in Österreich und Deutschland passen da viel mehr auf. Wir hatten mit Ajax ein Freundschaftsspiel im Old Trafford gegen Manchester United. Ich habe Kapitän Bryan Robson, 90-facher englischer Teamspieler, auf der Mittelauflage eine Doppel-Gurke geschoben und danach salutiert. Die Leute haben geklatscht. Bernd Schuster und Diego Maradona haben von mir auch Gurkerl gekriegt. Ich habe meistens fürs Publikum gespielt.
90minuten: Sie hatten noch einen anderen Spitznamen: "Gas en Licht".
Gasselich: Gas und Licht. Das klingt ähnlich wie Gasselich. Ich habe am Anfang eine zeitlang gebraucht, um mich voll einzufinden. Da waren bei den Trainings bis zu 1.000 Zuschauer, und ich eben in den Eins-gegen-Eins mit Silooy. Das war ein Schmäh – einschalten, ausschalten. Aber dann hat sich der Spitzname in Portenkoning umgewandelt. Das war besser.
90minuten: Es gibt auf einer Ajax-Fanseite eine Rangliste der denkwürdigsten Schnurrbärte. Sie sind auf Rang 6.
Gasselich: Den Spitznamen hatte ich auch: de Schnurr. Ich glaube, ich war damals der einzige Spieler bei Ajax mit einem Bart. Das waren ja alles junge Burschen, denen ist noch keiner gewachsen.
90minuten: Ein Zitat habe ich noch gefunden, es ist nicht gerade schmeichelhaft. Ein Fan hat in einem Buch folgendes über Sie geschrieben: "Wir dachten, er sei der Skilehrer der Tochter von Aad de Mos und nach einem betrunkenen Wochenende bei der Familie geblieben."
Gasselich: Das war sicher ein Fan vom Cruyff. (lacht) Klar, die haben sich als seinen Ersatz sicher einen Star erwartet.
90minuten: Wie ist Ihr Verhältnis zu Ajax heute?
Gasselich: Ich bin immer wieder in Amsterdam, bin noch gern gesehener Gast dort. Ich weiß nicht warum, aber ich kriege von jeder Vorstandsversammlung das Protokoll zugeschickt. Ich weiß alles.