Warum es für Dynamo Kiew um mehr als nur um Fußball geht
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Warum es für Dynamo Kiew um mehr als nur um Fußball geht

Ukraines Vizemeister empfängt am Mittwoch den FC Salzburg im polnischen Exil. Für Dynamo geht es dabei um mehr als um nur den Champions-League-Einzug.

Seine Mannschaft spiele "nicht um Geld, sondern um die Ukraine", erklärte Dynamo Kiews Klubpräsident Ihor Surkis nach dem Einzug ins Champions-League-Playoff, wo der ukrainische Vizemeister am heutigen Mittwoch auf den FC Salzburg trifft.

Die etwas pathetischen Worte Surkis' sind freilich mit dem anhaltenden Ukraine-Krieg zu erklären. Seit Russland im Frühjahr 2022 begann, die Ukraine zu invadieren, ist nichts mehr so, wie es einmal war. Auch im Fußball nicht.

Zwischenzeitlich verließ die überwiegende Mehrheit der ausländischen Spieler die ukrainische Premier League, und das zumeist auch noch ablösefrei; die Fankultur ist komplett eingebrochen, da ein Großteil der Hooligans für sein Land in den Krieg zog.

90Minuten hat mit Andrew Todos, einem gebürtigen Briten mit ukrainischen Eltern, über den Status Quo im ukrainischen Fußball zu Kriegszeiten und im Speziellen über Dynamo Kiew gesprochen. Todos ist Gründer des auf "X" reichweitenstarken Accounts "Zorya Londonsk", auf dem er seine Follower im Detail über die Geschehnisse im ukrainischen Fußball auf dem Laufenden hält.

"Sehen eine kleine Erholung"

Grundsätzlich, so Todos, muss festgehalten werden, dass sich die Qualität des ukrainischen Klubfußballs momentan nicht annähernd auf dem Niveau von vor dem Krieg befindet, "aber wir sehen eine kleine Erholung im Vergleich zur ersten Saison, als viele ausländische Spieler das Land verließen".

Speziell Shakhtar Donetsk kann aufgrund nach wie vor großer finanzieller Möglichkeiten weiterhin zahlreiche Legionäre anlocken, "die aber weniger Qualität als jene haben, die die Ukraine in der Vergangenheit anziehen konnte", so Todos.

Auch Dynamo Kiew verpflichtete in der letzten Dekade erstmals vermehrt Ausländer, von denen aber nur die wenigsten überzeugen konnten. Nun setzt man in der Hauptstadt wieder fast ausschließlich auf Ukrainer; dabei profitiert man von einer traditionell hervorragenden Akademie.

"Wenn es einen positiven Aspekt gibt, ist es der Umstand, dass sich ukrainische Spieler zeigen und weiterentwickeln können", erklärt der Experte.

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Zerbombte Stadien gab und gibt es in der Ukraine nicht nur wie hier zu sehen in Bachmut.

Positiv sei auch, dass die ukrainischen Ligen momentan ohne Unterbrechungen laufen können und es genug Vereine für einen Meisterschaftsbetrieb in drei Etagen gäbe, obwohl sich namhafte Klubs wie der FC Desna und der FC Mariupol (beide als direkte Konsequenz des Krieges) oder der SK Dnipro-1 (wegen eines Besitzers, der wegen Korruption ins Gefängnis wanderte) zuletzt zurückzogen.

Auch in die Stadien, die wegen der ständigen Bombengefahr zuletzt fast zwei Jahre komplett leer standen, kommt langsam wieder etwas Leben rein. Bis zu – je nach Kapazität der naheliegenden Schutzbunker - 2.000 Zuseher:innen dürfen den Ligaspielen seit Anfang des Jahres wieder beiwohnen.

Stimmung kommt dabei freilich keine auf, was auch daran liegt, dass nach aktuellen Schätzungen rund 80 Prozent aller ukrainischen Hooligans mittlerweile im Krieg dient und ein nicht unerheblicher Anteil von ihnen an der Front gefallen ist.

Den Hooliganismus gibt es nicht mehr, viele Fußball-Fans sind in der Armee. Jetzt kämpfen sie für die Ukraine, Seite an Seite mit Menschen, die sie zuvor in den Stadien gehasst und bekämpft haben.

Roman Bebekh, ukrainischer Sportjournalist

Einst verfeindete Hooligans kämpfen nun "wie Brüder" gegen Russland

Feindschaften zwischen den ukrainischen Hooligan-Gruppen sind dadurch ein Überbleibsel der Vergangenheit geworden. In einem von Todos produzierten, sehr hörenswerten Podcast namens "Play on! - How Football returned to War-torn Ukraine" kommt der ukrainische Sportjournalist Roman Bebekh mit einer bewegenden Anekdote zu Wort:

"Zwischen Dnipro und Metalist Kharkiv gibt es ein großes Derby, einen großen Hass zwischen den Fans. Aber seit dem Kriegsbeginn ist alles anders. Den Hooliganismus gibt es nicht mehr, viele Fußball-Fans sind in der Armee. Jetzt kämpfen sie für die Ukraine, Seite an Seite mit Menschen, die sie zuvor in den Stadien gehasst und bekämpft haben. Die Hooligans haben zu mir gesagt: 'Wir wissen nicht, wie wir uns jemals wieder bekämpfen können, nachdem wir jetzt gemeinsam gegen Russland kämpfen. Wir sind jetzt wie Brüder.'"

Fußball, speziell auf internationaler Ebene, wird von den ukrainischen Klubs auch für ihre im Krieg dienenden Fans gespielt.

"Andriy Shevchenko (mittlerweile Präsident des ukrainischen Fußballverbands, Anm.), hat nach dem Spiel gegen die Rangers letzte Woche gesagt, dass es den Soldaten einen kleinen moralischen Schub gibt, wenn ihre Mannschaft gewinnt, auch wenn sie nicht im Stadion sein können. Und ich finde, das ist ein wahrer Satz", hebt Todos die nicht-sportliche Bedeutung des Kiewer Siegs in Schottland hervor.

Die Profis selbst können aufgrund einer Sondergenehmigung übrigens nicht eingezogen werden, "sie haben eine eigene Mission am Platz, die Ukraine in den europäischen Bewerben zu repräsentieren".

Ukrainischer Absturz in der 5-Jahreswertung

Genau in diesen Bewerben bemerkte man den Qualitätsverlust des ukrainischen Klubfußballs zuletzt am allermeisten.

In den ersten beiden Spielzeiten seit Kriegsbeginn taten sich die ukrainischen Klubs enorm schwer, international zu performen. Dies hing neben der Legionärsflucht vor allem damit zusammen, dass, nachdem auf ukrainischem Boden freilich nicht in UEFA-Bewerben gekickt werden kann, die jeweiligen Vertreter sowohl Heim- als auch Auswärtsspiele in der Fremde absolvieren und zu diesen Matches mühsam per Bus über die Grenze und dann per Flugzeug anreisen müssen.

Auf den ukrainischen Koeffizienten hat dies harsche Auswirkungen. In der UEFA 5-Jahreswertung ist die Ukraine mittlerweile auf den 20. Platz abgerutscht, nachdem sie die Saison 2014/15 noch auf Rang 8 beendet hatte.

Besonders pervers in dieser Hinsicht: In der Vorsaison war die ukrainische Punkteausbeute so schwach, dass man sogar Luft auf das ausgeschlossene Russland verlor. Die Russen bekommen Jahr für Jahr 4,333 Punkte (ihre schwächste Ausbeute der letzten fünf Jahre) von der UEFA "geschenkt".

"Ohne auch nur einen Ball zu treten, haben sie jedes Jahr eine große Chance, die Saison mit einem höheren Koeffizienten als die Ukraine abzuschließen. Das ist lächerlich", ist Todos empört.

Russen-Transfer von Sturm "eine Schande"

Sauer stößt ihm auch auf, wie lasch mit den von der UEFA und FIFA über Russland verhängten Sanktionen umgegangen wird.

Die Verpflichtung des russischen Goalies Daniil Khudyakov durch Sturm Graz von Lokomotiv Moskau hat auch Todos mitbekommen. Die Grazer kritisiert er dafür hart:

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Daniil Khudyakov wechselte in diesem Sommer aus Moskau nach Graz.

"Das ist ein Spieler, der sein Land auf Juniorenebene vertritt. Russland zu repräsentieren, bedeutet auch das Regime zu repräsentieren. Sturm hat die Ausbildungsentschädigung zwar an die FIFA bezahlt, und ich verstehe auch die Legalität dahinter, aber das Geld kommt letztlich trotzdem bei Lokomotiv an (Sturm hat sich rechtlich abgesichert, sollte dieser Fall tatsächlich eintreffen, Anm.). Und Lokomotiv gehört der staatlichen Eisenbahngesellschaft, die ihre Züge dafür nützt, Panzer und anderes Kriegsgerät in die Ukraine zu befördern, um Ukrainer zu töten."

Solche Transfers seien eine "eine Schande und sehr frustrierend". "Die Sanktionen werden umgangen, es ist eine moralische Bankrotterklärung – was allerdings nichts Neues im Fußball ist", so Todos' deutliche Worte.

Das erwartet Salzburg gegen Dynamo Kiew

Deutlich besser aufgelegt ist der Experte, wenn er über Dynamo Kiew zu sprechen kommt. Die Hauptstädter befänden sich in "einer der besten Transferperioden seit langem". Es wurden vor allem Ukrainer von Ligakonkurrenten verpflichtet, die allesamt viel Qualität mitbringen würden.

Zudem ist Todos sehr überzeugt von Coach Oleksandr Shovkovskyi. Der legendäre ukrainische Torhüter, der alle seine 636 Spiele auf Profiebene im Kasten Dynamo Kiews absolvierte, löste Ende 2023 den "etwas überholten" Mircea Lucescu ab. Seither geht es in der Hauptstadt sportlich steil bergauf.

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Oleksandr Shovkovskyi gilt als Vereinslegende in Kiew. Mittlerweile ist er dort Coach.

"Er ist ein ruhiger, durchdachter Typ. Sehr intellektuell und auch ein wenig philosophisch, aber er hat das Beste aus dem Team herausgeholt. Unter ihm spielt die Mannschaft nicht mehr nur planlose Pässe, sondern kombiniert gut nach vorne. Er und sein Assistent Oleg Gusev, der ebenfalls eine ukrainische Fußballlegende ist, sind dabei, das – wie es momentan aussieht – beste Dynamo Kiew seit acht Jahren zu kreieren. Sie sollten in der Lage sein, in der Meisterschaft um den Titel zu kämpfen und in Europa aufzuzeigen", lobt Todos das Kiewer Trainerteam.

Auch von der aktuellen Mannschaft, die recht jung und fast gänzlich ukrainisch ist, hält er viel. Angeführt werden die Jungen vom mittlerweile 34-jährigen Andriy Yarmolenko, der zuletzt längere Zeit verletzt war, aber nun wieder fit und in guter Form ist. "Er schießt Tore und er hilft den jüngeren Spielern."

Todos geht davon aus, dass Dynamo gegen das zuletzt äußerst hoch pressende Salzburg Probleme bekommen könnte, weil man in der Meisterschaft hauptsächlich auf tiefstehende Mannschaften und selten auf einen solchen Spielstil trifft.

Dynamo wird, so seine Einschätzung, wie bereits in den vier bisherigen Champions-League-Quali-Spielen, auf Konterfußball setzen. Speziell auf den schnellen Stürmer Vladyslav Vanat gelte es für die Mozartstädter Abwehr aufzupassen.

Auch wenn die "Bullen" als leichter Favorit in die Begegnung mit Dynamo gehen, wird der letzte Schritt in die "Königsklasse" für sie alles andere als ein leichter werden.

Die Kiewer werden am Mittwoch nicht (nur) um den Champions-League-Einzug kämpfen, sondern auch für ihre Fans, die im Krieg dienen oder tragischerweise darin gefallen sind.

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