VAR: Reform or die
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VAR: Reform or die

Über drei Jahre nach seiner Einführung befindet sich der VAR in einer Imagekrise. 90minuten hat recherchiert, was sich ändern soll.

Wenn man so will, steckt der VAR in Österreich noch in seinen Kinderschuhen. Die erst vierte Saison mit dem System ist eine, in der abermals gelernt werden muss, mit ihm zu leben - das fällt weder Fans, noch Spielern, noch Trainern in jeder Situation leicht.

Auf jede Handvoll richtiger Entscheidungen fällt eine, die auch mehrere Tage im Nachhinein für heftige Diskussionen sorgt - manchmal zurecht, manchmal nicht. Da der Video Assistant Referee bei seiner Einführung gerne mit dem Wort "Gerechtigkeit" verknüpft wurde, liegt die Erwartungshaltung hoch. Jeder Fehler ist ein richtig wunder Punkt.

Dabei war die Devise von Start 2021 weg eine andere: Der Bundesliga-Vorstandsvorsitzende Christian Ebenbauer sprach davon, dass es mehr richtige Entscheidungen geben werde. Der damals amtierende ÖFB-Präsident Leo Windtner kündigte an, der VAR würde das Spiel gerechter machen. Es ging und geht um eine schrittweise Verbesserung, die stattgefunden hat, im öffentlichen Diskurs aber kaum noch wahrgenommen wird. 90minuten hat für den Themenschwerpunkt VAR mit vielen Menschen gesprochen, die vor allem eines fordern: Reformen.

Schwierige Voraussetzungen

Mit Viktor Kassai leitet ein ehemaliger Weltklasse-Schiedsrichter die zuständige Abteilung im ÖFB. Über die ersten sieben Runden der Bundesliga bilanziert der Ungar zwei VAR-Situationen, die als Fehler zu verbuchen sind. Drei weitere seien im Graubereich gelegen, meint Kassai. Der VAR mache den Fußball aber jedenfalls gerechter und fairer.

Die wichtigsten Änderungen, die seiner Meinung nach umzusetzen wären, fallen in den Bereich Personal: "Wir brauchen primär gute Schiedsrichter", so das Fazit im Interview mit 90minuten. Es brauche Schulungen und mehr Erfahrung, in einem weiteren Schritt sei auch über eine Professionalisierung nachzudenken. Kassai will dieses Thema in einigen Monaten konkret angehen. Auch technische Änderungen und mehr Kameras in den Stadien seien wünschenswert, aktuell fehlt für große Projekte aber das Geld: "Aus finanzieller Sicht gibt es derzeit keinen Puffer mehr."

Der ÖFB-Schiedsrichterchef im Schwerpunkt-Interview:

Kann das weg?

Über 30.000 Stimmen in einer LAOLA1-Umfrage machen deutlich, wie sehr der VAR polarisiert. Eine Mehrheit würde gerne darauf verzichten, das Ergebnis fällt aber denkbar knapp aus. Mit einem konkreten Änderungsvorschlag konfrontiert - eine bessere Auflösung der Szenen im Stadion, beispielsweise mit Durchsagen - zeigen sich 77 Prozent aufgeschlossen.

Soll der VAR in Österreich wieder abgeschafft werden?

Ja

53,8%

Nein

46,2%


Hier geht es zu allen Ergebnissen der Umfrage:

Schon im Herbst 2022 brachten Sportdirektoren gegenüber 90minuten Ideen ein: Lustenaus Alexander Schneider sprach von Mikrofonen für Referees, angelehnt an American Football, wo Entscheidungen unmittelbar ans Stadion und das TV-Publikum weitergegeben werden. Für Austria Klagenfurt brachte Matthias Imhof eine "Challenge" ins Spiel, mit denen Trainer eine genauere Überprüfung einfordern könnten.

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Anonyme Zustimmung

Die Schiedsrichter:innen selbst hätten damit wohl kein Problem. Unter Zusicherung ihrer Anonymität haben drei von ihnen offen mit 90minuten über ihre Erfahrungen und Probleme mit dem System gesprochen. "Von Schiriseite hätte kaum wer ein Problem, zu erklären, was gecheckt wird und was entschieden wird", heißt es da beispielsweise.

Der Artikel mit den Aussagen der Referees erscheint am Dienstagabend.

Warum der VAR eine Verbesserung sein kann, wird deutlich: "Mir gibt es ein gutes Gefühl, dass grobe Fehlentscheidungen noch eine zweite Chance bekommen, weil ich mich ja geirrt haben könnte." Schiedsrichter:innen können so befreiter arbeiten, auch wenn der Druck in hitzigen Situationen enorm bleibt. Vor allem in einem vollen Stadion: "Alle schauen auf dich, wenn du hinausgehst und dir eine Szene im On-Field-Review anschaust."

Arbeit unter Hochdruck

Oft genug sind strittige Spielsituationen so unübersichtlich, dass sie mit freiem Auge gar nicht vernünftig zu beurteilen sind. Der Aufwand, der für einen VAR-Check betrieben wird, ist enorm. Innerhalb weniger Momente muss sich ein kleines Team durch eine Szene navigieren, Linien ziehen und Perspektiven wechseln. Parallel dazu läuft permanente Kommunikation untereinander und mit dem Kollegen auf dem Platz.

Für ungeschulte Augen und Ohren ist ein Besuch im "VAR-Kammerl" deshalb eine Herausforderung.

Trotzdem durfte 90minuten einen Einsatz beobachten. Dabei ist eine Reportage entstanden, die Dienstagabend zu lesen sein wird.

Dass dem Videoschiedsrichter auch lange nach seiner Einführung noch Fehler passieren - sei es durch Unerfahrenheit, Überforderung oder ausbaufähige Arbeitsabläufe - ist ein Problem, aber angesichts der Aufgabe nicht überraschend. Die Entscheidungsfindung in einer Hochdrucksituation wird gewissermaßen in eine andere Hochdrucksituation außerhalb des Stadions umgeschichtet - das Ende der Entwicklung kann nach drei Jahren noch nicht abgeschlossen sein.

Schwedens Sonderweg

Den Videoschiedsrichter wieder abzuschaffen, würde den allgemeinen europäischen Trend jedenfalls konterkarieren. Von 30 der besten Ligen innerhalb der UEFA verzichtet nur Schweden weiterhin auf eine Umsetzung in der Allsvenskan. Beobachter versichern gegenüber 90minuten, dass das nichts mit einer womöglich höheren Qualität der Referees zu tun hat. Vielmehr haben Fans hier eine Pattsituation durchgesetzt, ihre Position darf auch als Widerstand gegen generelle Modernisierungstrends im Fußball verstanden werden.

Warum haben die Schweden keinen VAR? Die Erklärung im Bericht, der Dienstagabend erscheint.

Für Österreich wäre eine Abkehr vom VAR wohl insgesamt schwierig. Schweden profitiert in dieser Hinsicht von begrenzter Aufmerksamkeit: "Niemand ohne schon bestehende Verbindungen nach Schweden schaut die Allsvenskan. Natürlich nicht, da es sportlich bei weitem nicht die beste Liga in Europa ist", erklärt Journalist Viktor Asp gegenüber 90minuten. In der Fünfjahreswertung liegen die Skandinavier auf Platz 24, weder Liga noch Vereine legen besonders großes Augenmerk auf internationale Vermarktung.

Als der VAR kam, haben alle gefürchtet, dass es nichts mehr zum Diskutieren gibt. Jetzt gibt es noch mehr Diskussionen.

Peter Pacult

Vereine, die in Europacup-Gruppenphasen vertreten sind, entkommen dem VAR generell nicht mehr. Djurgården IF beispielsweise, der in der Conference League vor kurzem den LASK besucht hat, muss bei Heimspielen ein entsprechendes Kamerasystem zur Verfügung stellen. Die Technik ist im Stadion also vorhanden, am Donnerstag kommt sie zum Einsatz, am Sonntag nicht.

Entspannter Pacult

Einer, der sich in der laufenden Saison bereits über den VAR ärgern musste, ist Peter Pacult. Der Klagenfurt-Trainer hat in seiner Karriere viel erlebt, auch was Schiedsrichter angeht. Zum Thema Videoschiedsrichter findet der 64-Jährige trotz allem eine versöhnliche Linie. "Als der VAR kam, haben alle gefürchtet, dass es nichts mehr zum Diskutieren gibt. Jetzt gibt es noch mehr Diskussionen", erklärt er lachend im 90minuten-Interview.

Was der Trainer-Routinier sonst noch zum Thema zu sagen hatte, gibt es im am Mittwoch erscheinenden Interview nachzulesen.

Auch einen Vorschlag bringt Pacult ein: Knappe Abseitsentscheidungen sollen im Zweifel zugunsten der angreifenden Mannschaft beurteilt werden.

Ideen liegen also zur Genüge auf dem Tisch. Erst bei der Umsetzung wird sich zeigen, was aus dem System VAR noch herauszuholen ist. Bleibt sie aus, muss sich das österreichischen Schiedsrichter:innenwesen auf immer stärkeren Gegenwind einstellen.

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