"Nici spielt, das ist völlig logisch", sagte Ralf Rangnick vor dem Auftakt in die EURO 2024.
Seither hat sich überhaupt nichts verändert. Der 23-Jährige ist einer der absoluten Lieblingsspieler des ÖFB-Teamchefs.
2.250 Minuten Fußball hat Österreich bisher unter der Anleitung seines deutschen Teamchefs gespielt, in 94 Prozent davon stand der Salzburger am Feld. Anders ausgedrückt: Seiwald verpasste die erste Hälfte des Rangnick-Debüts gegen Kroatien und das Spiel in Andorra. Sonst keine Sekunde. Die vergangenen 18 Partien hat er allesamt durchgespielt.
Dauerläufer, Balleroberer, Chancen-Creator
Vor allem in verletzungsbedingter Abwesenheit Xaver Schlagers ist Seiwald für das ÖFB-Team unverzichtbar, er ist das Herz des zentralen ÖFB-Mittelfelds. Ein Spieler, um den du als Gegner im Idealfall mit dem Ball einen riesengroßen Bogen machst.
Wenn das so einfach wäre. Denn der Leipzig-Legionär ist auf dem Platz praktisch überall. 33,8 Kilometer hat er in den drei Gruppenspielen der EURO zurückgelegt, dabei 16 Bälle erobert, mehr als jeder andere Österreicher.
Auch im Spiel mit dem Ball ist Seiwald in Umschaltmomenten enorm wichtig. Vertikalität ist sein Trumpf. Und trotzdem brachte er bisher über 85 Prozent der Pässe an den Mann, spielte 21 Bälle ins letzte Drittel, die zweitmeisten des ÖFB-Teams, und kreierte mit sechs Chancen sogar die meisten.
"Er hat eine strategische Ader, die er in diesem Team ausleben darf. Ich glaube, Rangnick vertraut ihm total, das wiederum hilft Nici. Er kann entsprechend mit einem gewissen Selbstvertrauen agieren, ohne darüber nachzudenken", sagt Bernhard Seonbuchner gegenüber 90minuten. Der Salzburger Sportchef kennt Seiwald aus gemeinsamen Zeiten in der Red-Bull-Akademie, war auch sein U18-Trainer.
Der Staubsauger
Tatsächlich spricht Rangnick stets nur in höchsten Tönen von Seiwald: "Bei ihm weiß man als Trainer immer, was man bekommt. Ich kann mich nicht erinnern, dass er irgendwann bei einem Spiel oder Training underperformt hat. Er hat die Art und Weise wie wir spielen seit vielen Jahren vermittelt bekommen."
Im Spiel gegen den Ball übernimmt er die Rolle des "Staubsaugers", wie der Kicker es selbst nennt. "Ich versuche einfach, die Bälle, die vor der Abwehr runterfliegen, den Mitspielern weiterzugeben, am besten nach vorne. Es ist meine Aufgabe, der Stabilisator im Mittelfeld zu sein", sagt er.
"Er kann Situationen, in denen andere in Zweikämpfe müssen, anders lösen"
Aggressiv am Mann, immer unangenehm, aber nie unfair zu sein – es ist eine Gratwanderung, die der 23-Jährige mit Bravour meistert. In der EM-Gruppenphase hat er kein einziges Foul begangen.
Seonbuchner weiß: "Er versteht das Spiel, antizipiert und positioniert sich dadurch entsprechend gut. Er kann dadurch Situationen, in denen andere in Zweikämpfe gehen müssten, anders lösen."
Wer weiß, vielleicht haben die vielen Stunden Fußball im Garten mit seinen zwei großen Brüdern geholfen, um diese Fähigkeit zu entwickeln. Oder die Extra-Trainings mit Papa Hubert, der ihn in der U7 und U8 des SV Kuchl coachte. Daheim ließ er seine Burschen mit den Händen jonglieren und dabei einen Ball mit dem Fuß führen.
Bruder Maximilian spielt immer noch beim SV Kuchl, Raphael, der älteste des Trios, studiert in den USA, ist DJ und Gründer eines Web-Radios. Im Stadion sind sie bei den EM-Spielen freilich zugegen. Die Familienbande sind eng geknüpft, erst in Leipzig bezog Nicolas seine erste eigene Wohnung.
Der allseits beliebte Musterschüler
Fußball-Profi ist mehr als ein Beruf für Seiwald, es ist eine Passion. "Es ist nicht so, dass ich ganz weg vom Fußball will. Ich analysiere danach gerne die Spiele und schaue mir davor meine Gegenspieler an, will ihre Stärken und Schwächen wissen", sagt er über die Zeit zwischen den Spielen.
Und wenn dann doch Freizeit angesagt ist, treibt er sich im Schlosshotel Berlin in der Playerslounge herum. "Dort kann man Tischtennis und Karten spielen. Das ist mein liebster Zeitvertreib“, berichtet er. Mit Matthias Seidl ist einer seiner engsten Freunde Teil des Teams, sie kennen sich, seit sie vier Jahre alt waren. "Wir haben unsere ganze Kindheit zusammen verbracht", sagt Seiwald.
Seonbuchner beschreibt ihn als "Musterschüler". "Er ist sehr klar, sehr fokussiert. Er braucht es nicht so sehr wie andere, dass er vom Trainer gebauchpinselt wird. Den musst du nicht ständig antreiben, der arbeitet", sagt der RBS-Sportchef.
"Durch seine Spielweise und die Art, wie er auf dem Spielfeld coacht, bringt er Führungsqualitäten mit"
Seiwald gilt als introvertierter Typ. Michael Gregoritsch sagt über ihn: "Er ist bei allen in der Mannschaft sehr anerkannt, ist sehr beliebt. Obwohl man teilweise sehr, sehr offensiv auf ihn zugehen muss, damit er etwas verrät. Das macht ihn irgendwie aus, er verstellt sich nicht, ist immer noch dieser total bodenständige Bua aus Kuchl."
So hat ihn Seonbuchner auch in Erinnerung: "Er war kein Lautsprecher, ist eher mit Leistung und Einstellung vorangegangen. Er hat eine hohe intrinsische Motivation. Es hat aber schon Momente gegeben... Ich kann mich an eine Situation im Training erinnern, in der er wild geworden ist und mir zu verstehen gegeben hat, dass er mit etwas nicht einverstanden ist. Das war aber genau der richtige Mix."
Rangnick schreibt ihm nichtsdestoweniger eine Leaderrolle zu: "Er ist jemand, der durch seine Spielweise und die Art, wie er auf dem Spielfeld coacht, schon Führungsqualitäten mit sich bringt."
Und all das, obwohl der Mittelfeld-Motor keine einfache erste Saison bei RB Leipzig hinter sich hat. Nur elf Startelf-Einsätze stehen für die Ostdeutschen zu Buche. 1.150 Spielminuten hat er für seinen Arbeitgeber in den Beinen. Zum Vergleich: Im ÖFB-Team sind es in der Saison 2023/24 schon 20 Minuten mehr.
Seonbuchner sagt: "Ich denke, er genießt es, dass er im ÖFB-Team eine wichtige Säule ist. Er ist wie eine Blume, die aufgeht und sich entfaltet."
Die Scheinwerfer sind aber grundsätzlich auf andere gerichtet. Seiwald ist keiner, der Tore schießt – zehn waren es bisher in seiner Profi-Laufbahn.
Unsung hero
"Im Fokus stehen meistens die offensiven Spieler. Er hat einfach eine andere Rolle, verleiht dem Ganzen Stabilität, gestaltet das Spiel von hinten heraus. Es braucht aber vielleicht mehr Wiederholungen, um zu erkennen, wie wertvoll er für diese Mannschaft ist. Das ist das Los eines Spielers auf dieser Position", weiß Seonbuchner.
Über den Wert eines Spielers auf dem Feld sagt die öffentliche Aufmerksamkeit aber freilich wenig aus. Es ist vielmehr das Vertrauen des Trainers, der ein aussagekräftiger Indikator dafür ist.
Und da gilt für den unbesungenen Helden Nici Seiwald aus Rangnicks Mund: "Er spielt, das ist völlig logisch."