Das brechend volle Berliner Olympia-Stadion wurde am Freitag Zeuge eines rot-weiß-roten Fußballmärchens.
Ausgerechnet Marko Arnautovic war es, der das ÖFB-Team als Kapitän und zugleich Torschütze zu einem enorm wichtigen 3:1-Sieg über Polen führte. Und das, nachdem zuletzt wochenlang öffentlich seine Teamtauglichkeit diskutiert wurde.
"Natürlich hört man von außen immer: 'Der ist zu alt, der kann das Spiel von Ralf Rangnick nicht mehr anziehen.' Aber das ist nicht so, ich kann es noch immer", antwortet Arnautovic in einem emotionalen Interview bei "ServusTV" seinen Kritikern.
Noch deutlicher war seine Antwort freilich auf dem Spielfeld. Doch was hat Arnautovic an diesem Nachmittag in Berlin so gut gemacht? Und warum hat Teamchef Ralf Rangnick ihm überhaupt den Vorzug gegenüber Michael Gregoritsch gegeben?
Das alles klären wir in der vierten Ausgabe der 90minuten-Taktik-Analyse, die wir gemeinsam mit unserem Spielanalyse-Partner, dem Internationalen Fußball Institut (IFI), präsentieren.
Zu alt für Rangnick-Fußball? Auf keinen Fall!
Die Diskussionen über Marko Arnautovic im Nationalteam gibt es so lange, wie der Wiener das ÖFB-Dress überstreift.
In den letzten 15 Jahren wurde der ÖFB-Rekordinternationale - freilich nicht nur zu unrecht - immer wieder kritisiert; speziell seit der Übernahme von Ralf Rangnick sah er sich immer öfter mit Stimmen konfrontiert, die meinten, er würde nicht in das pressingorientierte Spielsystem des Deutschen passen.
Unmittelbar vor der EURO wurden diese Stimmen wieder besonders laut. Dass Arnautovic trotz einer schwachen Leistung als Joker gegen Frankreich gegen Polen plötzlich von Beginn an aufgeboten wurde, sorgte bei vielen der rund neun Millionen rot-weiß-roten "Teamchefs" für Kopfschütteln.
Sie alle wurden eines Besseren belehrt. Was viele der heimischen Couchexperten nämlich nicht bedachten, war, dass Arnautovic so etwas wie das perfekte Gegengift gegen die polnische Abwehrriege darstellt.
Deshalb griff Rangnick auf Arnautovic zurück
Rangnick wusste, dass die Polen seit längerer Zeit mit einer Dreierkette in der Defensive auftreten und dies gegen das ÖFB-Team nicht ändern werden.
Arnautovic hat sich über die Jahre zum Stürmertyp eines klassischen Neuners entwickelt, der oftmals hinter der letzten gegnerischen Linie lauert und aus dem Rücken der Verteidiger, die sich deshalb stets vororientieren müssen, hervorsticht.
Da der 35-Jährige trotz seines gehobenen Fußballeralters immer noch eine gewisse Grundgeschwindigkeit aufbringt, waren die Polen dazu gezwungen, immer zwei Verteidiger abzustellen, damit Arnautovic nicht aus den Augen gerät. Dadurch wurde der Wiener selbst zwar über lange Zeit aus dem Spiel genommen, dies ermöglichte gleichzeitig aber Räume für seine Mitspieler und diese sorgten wiederum immer wieder für Überzahlsituationen des ÖFB-Teams (die in der ersten Halbzeit allerdings viel zu selten genutzt wurden).
Man kann davon ausgehen, dass Rangnick genau diese Bindung der letzten polnischen Linie durch Arnautovic mit dessen Startelfnominierung bezweckt hat.
Der Assist, der eigentlich gar keiner war
Ursprünglich wurde mit Michael Gregoritsch in der Startelf gegen die Polen gerechnet. Der Steirer ist aber eher der Stürmer-Typ, der sich meistens etwas zurückfallen lässt und eher die Räume vor der letzten Linie sucht. Womöglich wäre er mit der polnischen Dreierkette nicht allzu gut zurechtgekommen.
Arnautovic kommt diesbezüglich freilich auch seine Physis zugute. Immer wieder wurde er von seinen Mitspielern mit hohen Bällen gefüttert, die er festmachen und weiterverteilen bzw. manchmal einfach nur durchlassen konnte. So auch bei der Szene, die zum 3:1 führte, als er Verteidiger Dawidowicz nach einem Pentz-Abschlag einfach wegblockte, der den Ball so in den Lauf von Sabitzer köpfte und dieser wiederum den später von Arnautovic verwandelten Elfmeter herausholte.
Überhaupt waren an diesem Abend die besten Aktionen Arnautovics jene, in denen er gar nicht selbst an den Ball kam, sondern durch geschicktes Weglocken des Gegners seinen Mitspielern selbstlos Räume verschaffte.
Uns allen wird vermutlich noch längere Zeit die Szene vor dem 2:1 in Erinnerung bleiben: Bei einem starken Pass des eingewechselten Prass zwischen die Linien sind alle polnischen Augen auf Arnautovic gerichtet.
Der Wiener, der diesmal vor der gegnerischen Abwehr als Anspielstation auftaucht, täuscht an, die Kugel anzunehmen, zieht dadurch den gegnerischen Fokus auf sich, lässt in Wirklichkeit aber zu Baumgartner passieren, der durch diese polnische Fixierung auf den ÖFB-Kapitän genau genug Raum bekommt, um in eine Abschlusssituation zu kommen. Schon hier ist es Dawidowicz, der nur Augen für Arnautovic hat und es dadurch verpasst, Baumgartner noch rechtzeitig zu stören.
Arnautovic steckt zurück, damit seine Mitspieler glänzen können
Und eine weitere Szene möchten wir noch analysieren. Nämlich jene in Minute 75, als Patrick Wimmer bereits beinahe für die Vorentscheidung sorgte und Arnautovic dabei erneut ballfern eine wichtige Rolle spielte.
Diesmal ist es Baumgartner, der, beflügelt von seinem Treffer kurz zuvor, ein Tempodribbling durch die gegnerischen Reihen anzieht und anschließend auf Wimmer querlegt, dessen zu zentraler Abschluss von Szczesny pariert werden kann.
Doch Wimmer wäre gar nicht in diese Abschlussposition gekommen, hätte Arnautovic nicht erneut kluge Lauf-Vorarbeit geleistet. Parallel zu Baumgartners Dribbling zog er nämlich einen Sprint in den gegnerischen Sechzehner an. Dass es für Baumgartner schwer bis unmöglich gewesen wäre, ihn dort zu bedienen, war dem Wiener wohl auch selbst bewusst.
Sein eigentliches Ziel mit diesem Lauf war es nämlich, die polnischen Verteidiger in den eigenen Strafraum zu ziehen und den Rückraum dadurch zu eröffnen.
Tatsächlich ließen sich polnischen Verteidiger locken. Dawidowicz machte den Lauf von Arnautovic in die Tiefe mit, auch Bednareks Aufmerksamkeit galt nur Arnautovic, der rechte polnische Innenverteidiger übersah Wimmer im Augenwinkel und ermöglichte dem Wolfsburg-Legionär dadurch den Raum zum Abschluss.
Besagte Szene in der Spielanalyse-Grafik:
Arnautovic=grün, Wimmer=blau, Baumgartner=rot
Harmoniert Arnautovic besser mit Baumgartner als Gregoritsch?
Kurzum: Arnautovic füllte am Freitagabend - auch abseits von seinem Tor - eine enorm wichtige Rolle im ÖFB-Team aus und hat seine Kritiker einmal mehr verstummen lassen.
Zusätzlich zu den besprochenen Szenen bestach der Wiener am Freitag mit viel körperlichem Einsatz, auch für Abwehraktionen im eigenen Sechzehner war er sich nicht zu schade. Alles ging ihm freilich aber nicht auf.
Aus taktischer Sicht ist festzuhalten, dass Arnautovic aufgrund seiner Interpretation der Stürmerrolle möglicherweise besser mit Baumgartner harmoniert, als es dieser mit seinem "Spezi" Gregoritsch tut.
Wenn Arnautovic und Baumgartner gemeinsam am Feld stehen, sind die Räume des ÖFB-Teams etwas besser verteilt. Wenn Gregoritsch spielt, lässt er sich gerne tief fallen, was den Spielraum im offensiven Mittelfeld enger macht.